Ahnenverehrung – ein Kernpunkt unseres Glaubens
In unserem Artbekenntnis heißt es unter Ziffer 5: „Unser Sein verdanken wir wesentlich Eltern und Ahnen. Wir bekennen uns zur Verehrung unserer Ahnen und wollen ihr Andenken an kommende Geschlechter weiterreichen.“ Eine Selbstverständlichkeit, mögen manche denken.
Hat diese Aussage denn wirklich eine religiöse Bedeutung? Meiner Auffassung nach handelt es sich hier um einen Kernpunkt unseres Glaubens! In Europa hat die Christianisierung und dann verstärkt die Entwicklung der letzten drei Jahrhunderte zahlreiche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umwälzungen bewirkt, die das unserer Art gemäße soziale Gefüge nahezu völlig vernichtet haben. Sippe und Großfamilie verloren an Bedeutung und schrumpften auf die Kleinfamilie ohne die bisherige enge Verbindung zwischen Großeltern und Enkeln zusammen. In zahlreichen Fällen besteht heutzutage nicht einmal mehr die Kleinfamilie, weil gewollt auf Kinder verzichtet wird. Der Verlust des Denkens in der größeren Verwandteneinheit führte zur individualistischen. liberalistischen Betrachtung der Welt und der eigenen Stellung darin. Bei einer solchen Betrachtungsweise ist es nur folgerichtig, keine Kinder mehr haben zu wollen, da diese – anders als noch in einer bäuerlichen Umwelt – keinen wirtschaftlichen Nutzen bringen, sondern nur erhebliche Kosten machen. Die Individualisierung der Einzelwesen führt also zwangsläufig zum Zusammenbruch eines solchen Sozialwesens durch Aussterben. So viel Geld, um die mit Kindern verbundenen finanziellen Nachteile voll auszugleichen, wird unserer heutiger Staat für die Familien nicht aufbringen, so daß ohne eine Neubesinnung in weltanschaulich- religiöser Hinsicht eine grundlegende Umkehrung der Einstellung zu Kindern nicht zu erreichen sein wird.
Welche Bedeutung hatte nun die Sippe früher?

Die Sippe war eine Gemeinschaft der Lebenden und der Toten: Zur Sippe gehörten die Ahnen dazu. (Ahne geht auf dieselbe Wurzel wie Hauch, Wind zurück; es sind die Toten, die Seelen – vgl. P. Herrmann: „Deutsche Mythologie“, S. 6). Sie spendeten dem Geschlecht weiterhin Segen. Damit sie weiterwirken konnten, baute man ihnen eine Heimstätte, man barg sie in künstlich geschaffenen Bergen, in denen die Megalithkammern waren. Dort glaubte man die Verwandten weiterlebend.
In den Sagas findet sich die Geschichte von Thorstein, der im Herbst mit seinen Leuten zum Fischfang ausgefahren war. Als am Abend ein Schafhirt an dem Sippenhügel „Helgafell“ vorbeikommt, sieht er, daß eine Seite des Berges offensteht. Im Innern des Hüge ls brennt wie in der Halle des Hofes ein großes Feuer. Lärm und Lachen und Klang von Trinkhörnern dringt in die Nacht. Er hört Stimmen, die Thorstein und seine Gefährten willkommen heißen und ihn einladen, seinem Vater Thorolf gegenüber im Hochsitz Platz zu nehmen. Der Schäfer berichtet das Gesehene Thorsteins Frau. Am nächsten Morgen kommt die Nachricht, Thorstein sei in der stürmischen See untergegangen.
Ebenso ging in der Völsungensage Sigrun in den Hügel Helgis, des Sohnes von König Sigmund und unterhält sich dort mit ihm. Gräberraub gilt nach dem Gesetz wie Raub im Hause. Der Glaube, daß die Toten in Hügeln weiter leben, ist meiner Auffassung nach älter als die Vorstellung von Walhall, das sich die Gefolgsmänner mächtiger Könige in ihrer Vorstellung schufen, weil sie fernab der Hügel der Ahnen zu fallen drohten.
Wilhelm Grönbech nennt als germanische Auffassung, daß die Toten das Leben fortsetzen, bis sie vergessen sind (I, S. 232). Jan de Vries betont: „Das germanische Sippengefühl gipfelt im Ahnendienst.
Hier liegen die Urkräfte, aus denen die Sippe weiterlebt. Hier quillt in nie versiegender Fülle das Leben aller künftiger Geschlechter hervor . . . Deshalb ist der Grabhügel auf dem Erbhof der Sippe auch ein heiliger und Kräfte spendender Mittelpunkt“ (S. 45f.). Auf dem Deckstein des Hügelgrabes wurden die Ehen geschlossen, und noch die schwäbischen Herzöge heirateten am Gunzenlee im Lechfeld, dem Grabhügel des Herzogs Cunzo aus dem 6. Jahrhundert (v. Kienle, S. 130). In Schwaben besucht das Brautpaar noch heute nach der kirchlichen Trauung zuerst die Gräber der Eltern oder anderen verstorbenen Angehörigen und Iädt sie zu Gerste (P. Geiger: „Deutsches Volkstum in Sitte und Brauch“, 1936, S. 114). P. Herrmann meint, daß in der ältesten Zeit die Ahnen, die hauptsächlichste Verehrung bei der Hochzeitsfeier genossen hätten (P. Herrmann, S. 471).
Snorri sagt, als er um Rat angegangen wird: „Dann werden wir uns auf Helgafell setzen, denn immer sind die Ratschläge am besten gewesen, die dort gefaßt wurden.“ (de Vries: „Die geistige Welt der Germanen“, 1964, S. 46). Von einigen Gräbern auf Island wird erzählt, daß sie Sommer und Winter grünten oder wenigstens nicht festfroren (Karl Weinhold, Altnordisches Leben, 1938, S. 342). Die aus Norwegen nach Island Auswandernden nahmen Erde vom Ahnengrab mit (v. Kienle, S. 130). Der Toten wurde auch im Jahreslauf gedacht. Das Julfest diente nicht nur dem Sonnenkult, sondern auch dem Totenkult. Helm meint, daß es bei den Goten das bedeutendste Fest zum Gedächtnis der Toten gewesen sei (Helm: Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. II, 1., 1937, S. 20). Nach dem Tode des Hausherrn wurde das Erbmahl im Norden zuweilen, nicht wie sonst üblich, dreißig Tage nach dem Tode durchgeführt, sondern zur Julfeier. Zum Ahnenkult gehörte schließlich auch die Blutrache: Sie wurde als eine der Seele des Toten gegenüber bestehende Verpflichtung der Blutsverwandten gesehen. (Helm, S. 20; Helm, in Nollau: Germanische Wiedererstehung, S. 323). Dazu kam, daß das Ansehen einer Sippe sank, wenn keine Rache genommen wurde. Da es keinen Staat gab, der das Recht durchsetzte, wurde eine solche Sippe rechtlos.
Gern gab man einem Kind den Namen eines verstorbenen Vorfahren, weil man glaubte, daß das Kind dadurch verstärkt Heil haben würde. Wegen der großen Anzahl von Schriftquellen sind wir über die Ahnenverehrung der indogermanischen Römer besser unterrichtet. Die Totenfeiern begannen am Mittag des 13. Februars und endeten am 21. oder 22. Februar. Die Gräber wurden mit Blumen geschmückt, und es wurden dort Opfer und Spenden dargebracht. Es wurden ferner Lichter am Grab aufgestellt. und man bekränzte die Gräber an den Geburtstagen des Verstorbenen und am Jahrestage seines Todes. Beliebt waren Mähler am Grabe, bei denen man sich den Verstorbenen mitspeisend dachte. Ahnenbilder wurden in kleinen Schreinen im Atrium aufbewahrt. die bei festlichen Gelegenheiten geöffnet, gelegentlich auch mit Lorbeer geschmückt wurden. Die Totenmasken haben die Römer von den Etruskern übernommen. Am 22.2. wurde den Ahnen auf einer patella Salz, Mehl und Fleisch dargeboten, wobei die Speisen vor Beginn der secunda mensa ins Feuer geworfen wurden. Die Penaten nahmen, in kleinen Figürchen verkörpert, an der Mahlzeit teil. Die patella ist ein einfaches irdenes Gefäß, was das Alter dieses Brauches beweist. Eine kleine Ration wurde täglich für die als Schutzgeister gedachten Ahnenseelen auf dem Herde oder auf einem kleinen Altar verbrannt. Diese Speiseopfer sind ein Rest altrömischer Ahnenverehrung, vielleicht altindogermanischer, denn die Speisung der Toten ist bei allen Indogermanen bezeugt (Franz Böhmer: Ahnenkult und Ahnenglaube im alten Rom, 1943). Ein Nachklang ist noch bei uns im Volksglauben gegeben, daß dem Kobold täglich zu einer bestimmten Zeit am bestimmten Ort ein Schüsselchen mit Essen hingestellt werden muß, wenn er helfen soll (P. Herrmann, S. 149 f.); und P. Herrmann ist der Auffassung, daß den Geistern der Vorfahren auch bei den Germanen der Hausvater täglich im Herdfeuer Opfer darbrachte (S. 473).
Ahnenopfer und Ahnenverehrung sind auch in ganz Griechenland die Grundlage von Brauch und Sitte. „Das Geschlecht ist erst wirklich gestorben, wenn keine Nachkommen mehr das Andenken der Ahnen lebendig erhalten und durch Ahnenopfer auf den Hausaltären die Geister der Verstorbenen mit Nahrung versehen. Das Aussterben eines Hauses ist für den Hellenen der alten Zeit das schlimmste Verhängnis. Mit den Göttern seines Geschlechts, denen ihr Opfer fehlt, mit dem Erlöschen der Herdflamme verliert der Tote sein „Heil“, mit seinem Namen schwindet auch der Name aller seiner Vorfahren.“ (R. Walther Darre: Vom Lebensgesetz zweier Staatsgedanken, 1940, S.38). Lykurgos wollte den Gedanken der Ahnenverehrung mit der Stätte des Ahnenkultes auf ewige Zeiten fest verankern und gründete Erbhöfe, womit der Kultstätte der Ahnenverehrung eine wirtschaftliche Grundlage gegeben wurde.
Soweit zu den verstorbenen Sippenangehörigen. Wie weit reichte nun die Sippe bei den Lebenden?
Vereinfacht dargestellt, gehören dazu alle Verwandten bis zum dritten (altgermanischen) Glied(- Grad). Kinder, Geschwister und Eltern gehören als Familie nicht in den ersten Grad, anders als bei den Indoariern (Gesetzbuch des Manu) und Griechen, wo die Grenze des Totenkultes ebenfalls beim dritten Grad liegt, der dort aber die Urgroßeltern umfaßt (Richard v. Kienle: Germanische Gemeinschaftsformen, 1939, S.127).
Zum ersten Grad gehören die Großeltern, die Elterngeschwister, die Geschwisterkinder und die Enkel. Zum zweiten Grad gehören die Urgroßeltern, die Großelterngeschwister und ihre Nachkommen, die Urenkel usw. Zum dritten Grad gehörten die Ururgroßeltern, die Urgroßelterngeschwister und ihre Nachkommen usw. Die altgermanische Geschlechterverfassung stellte also nicht – wie manche andere Geschlechterverfassungen nur auf die väterliche Linie ab, oder nur auf die mütterliche Linie, sondern auf die Gesamtheit der Verwandten innerhalb eines doch recht großen Kreises. Die Gesamtzahl dieser Verwandten hieß die „Sippe“. Alle ihre Angehörigen waren untereinander „sip“, wie es in friesischen Rechtsquellen heißt.
Sie wurden mit dem Namen „Freunde“ bezeichnet („friund“), die Personen außerhalb des dritten Verwandschaftsgrades wurden „Fremde“ genannt.
Innerhalb dieses Kreises wurde geerbt. Alle Sippenangehörigen waren verpflichtet, bei Verletzung oder Tötung eines der Ihren Blutrache gegenüber der Sippe des Schädigers zu üben, und erhielten zur Sühne – wenn man sich verglich – von den Angehörigen der an deren Sippe einen abgestuften Geldanteil. Die Sippenangehörigen waren zur Eideshilfe vor Gericht verpflichtet, besorgten die Bestattung der Verwandten, halfen Verwandten, die in Not gerieten. Wir müssen uns die Großsteingräber, in denen teilweise weit über hundert Bestattungen vorzufinden sind, als Sippengräber vorstellen.
Die Christianisierung konnte überhaupt nur Erfolg haben, wenn diese Sippenverfassung zerschlagen wurde. In den Sachsenkapitularien wurde bei Todesstrafe verboten, Familienangehörige in den alten Sippengräbern zu begraben; sie mußten auf den christlichen Friedhof gelegt werden. Es wurde ferner bei Todesstrafe verboten, an den Gräbern bestimmte Bräuche auszuführen und auch Bonifatius verbietet Opfer für die Toten oder bei den Gräbern (P. Herrmann, S. 344). Aus anderen kirchlichen Bußbestimmungen wissen wir, daß es in den Häusern mutmaßlich aus Holz gefertigte Symbole gegeben hat, die mit dem Ahnenglauben zusammenhingen. Im Berliner Museum gibt es ein Tonköpfchen aus dem 4. oder 5. Jahrhundert mit der Runeninschrift „Fulgia“ = Folgegeist, Sippengeist (P. Herrmann, S. 48). Alles dieses suchte die Kirche auszurotten, oftmals mit Erfolg. Die Zerschlagung des Sippendenkens sollte die Christianisierung ermöglichen und Platz schaffen für die Bindung an einen neuen Glauben, an Christus statt an die Ahnen. Die Ahnen waren die Heiligen und deshalb verbietet Indiculus Nr. 25 beliebige Tote zu Heiligen zu machen (P. Herrmann, S. 48). Wie stark auch noch in der Umbruchszeit dieser Glaube war, zeigt die Erzählung vom Friesenhäuptling Radbod, der – als er schon an der Taufschale stand – fragte, wie es mit seinen Vorfahren sei, ob die auch im Himmel seien, wohin er ja nun nach der Taufe kommen würde. Als ihm darauf hin erklärt wurde, seine Vorfahren seien als Ungetaufte selbstverständlich in der Hölle, zog er seinen Fuß vom Taufbecken zurück und erklärte, dann wolle er – gleichgültig wie es da aussehe – lieber nach dem Tode mit seinen Ahnen zusammen sein.
Die Sippe verlor ferner – unabhängig von den christlichen Angriffen – dadurch an Bedeutung, daß zunehmend häufiger Aufgaben, die sie wahrzunehmen hatte, vom Staate übernommen wurden. Die ursprüngliche Bedeutung können wir noch aus alten friesischen Rechtsquellen erschließen. Sie hat sich im Dithmarscher Geschlechterstaat noch bis ins Hochmittelalter erhalten. Vergleichbares gab es beim schottischen Clan-System noch länger. Die Industrialisierung und Vermassung, das Zusammenballen in Großstädten, die Aufhebu ng der ursprünglichen Siedlungseinheit der Sippe hat dann in den letzten Jahrhunderten – abgesehen von einer kurzen Renaissance in den dreißiger Jahren – den Sippengedanken verkümmern lassen.