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Fragen wir nach der Weltanschauung unserer ungetauften Vorfahren, so lehren uns die Quellen zuvörderst, daß es sich dabei um eine Weltanschauung im eigentlichen Wortsinne, um eine Kosmologie gehandelt hat. Am besten bekannt wird sie uns aus der Überlieferung des alten Nordens. Wie Eddalieder, voran die Völuspa, Snorris Skaldenlehrbuch und andere Denkmäler lehren, glaubten die unbekehrten Nordgermanen an die Schöpfung des Kosmos durch die Götter aus den Leibesteilen des Urriesen Ymir, an die der ersten Menschen, Ask und Embla ebenfalls durch göttliche Mächte, drei an der Küste entlangwandernde Asen, die dort zwei angetriebene Baumstämme finden und sie mit menschenähnlichem Aussehen, den Farben des Lebens, Stimme und Atem begaben.

Wie sie annahmen, Ymir sei von Odin und seinen Brüdern, den aus dem Gestein der Schlucht Ginnungagap von der Kuh Authumla herausgeleckten ersten Göttern, erschlagen worden, so war es auch ihre Überzeugung, daß die überwältigten und an den Rand des Universums zurückgedrängten Riesen in ferner Zukunft für diese Demütigung Rache nehmen und Götter, Welt und Menschen verderben werden in dem großen Kampf, den beide Parteien dann miteinander ausfechten, der großen Katastrophe des Ragnarök. Für das hohe Alter dieser Vorstellungsmasse spricht ihre Verwandtschaft mit der altpersischen und altgriechischen Kosmologie, auch mit derjenigen der Kelten, von denen wir wissen, daß auch sie einen künftigen Weltuntergang fürchteten; bei den alten Iren findet sich außerdem der Gedanke von einem Kampf der Götter mit den Riesen, wenn auch in historisierter Form. Bei den Griechen ist der Strauß der Olympier mit Titanen und Hekatoncheiren an den Anfang der Zeiten verschoben – jedenfalls weil der finster aus der Zukunft hereindrohende Weltuntergang sich mit dem Lebensgefühl der Hellenen nicht vertrug -; während wir bei den alten Persern den Gegensatz zwischen Ormuzd und Ahriman und den ewigen Kampf dieser entgegengesetzten Gewalten antreffen. So erscheint uns die Weltanschauung der Indogermanen als dualistisch und vom Gedanken des ewigen Kampfes beherrscht.

 

Und zwar handelt es sich dabei nicht nur um den Streit der aufbauenden mit den niederreißenden Gewalten: auch die Menschen sind beteiligt, als Bundesgenossen ihrer Götter, mit deren Schicksal das ihrige zusammenfällt. Die germanische und indogermanische Gottheit ist innerweltlich, immanent; die orientalische außerweltlich, transzendent; letzteres sind bei den Indogermanen höchstens die Riesen oder Dämonen. Dies zeigt sich auch an der eddischen Lehre von der Entstehung der Welt, der Götter und der Menschen. Nach ihr war nicht das Göttliche zuerst da und schuf durch seinen Willen oder sein Wort die Welt. Sondern ihr Anfang war die Welt. So lehrte Pherekydes von Syros die Ewigkeit der Erde, und Thales und Anaximander behaupteten die Ursprünglichkeit, der eine des Wassers als Urstoff, der andere eines unbestimmteren und unendlichen Stoffes. Auch die plastischere Grundform, welche wir für die grüblerische Kosmogonie des Rigveda vermuten müssen, war, wie es scheint, „materialistisch“ geartet. So ergibt sich urindogermanisches Alter für die Anfänge auch der altnordischen Weltentstehungslehre. Das Älteste, was diese kennt, war brauender Nebel über Wasserströmen, die aus dem Brunnen Hvergelmir hervorströmen, im Süden begrenzt durch die helle Feuerwelt Muspell, im Norden durch die Welt des Eises, westlich und östlich aber von zwei gewaltigen, kahlen Felshängen, so daß eine riesenmäßige Bergschlucht nordsüdlich verläuft, das Ginnungagap. In diese schaurige Wüste kam das erste Leben, wie wenn Blütenstaub übers Meer verweht und auf toten Inseln Pflanzenwuchs erzeugt: da von Norden vor dem Eise her Schnee und Reif stob im kalten Luftzug und von Süden von dem Feuer her glühende Funken im heißen, kam es in der gemäßigten Mittelregion, wo beide sich begegneten, durch Schmelzen zur Tropfenbildung, und aus den am Boden des Ginnungagap samenartig zusammenrinnenden Tropfen entstand ein entfernt menschenähnliches Wesen. Ymir Aurgelmir, der Stammvater der Riesen. Davon erzählt der Riese Wafthrudnir auf Grund der uralten Sippenüberlieferung seines Geschlechtes dem ihn besuchenden Odin:

Aus den Eliwagar
Flogen Eistropfen,
Aus dem Tropfen ein Thurse wuchs;
Unsere Sippen
Stammen dort alle her;
Drum ist’s ein schlimmes Geschlecht.

Eliwagar sind die Eismassen des äußersten Nordens, gefrorene Ausflüsse des Muspellfeuers. Thurse heißt so viel wie Riese; das Wort (althochdeutsch duris) betont die ungeschlachte Häßlichkeit der der Riesen, wie Jötun (niederdeutsch eten in eteninne, „Hexe“, bei Lauremberg), das dritte Synonymum, ihre bestialische Wildheit betont. Das Geschlecht der Riesen oder Reifriesen – wie sie wegen ihres Ursprunges ebenfalls heißen – ist schlimm und böse (atalt, illt), und Snorri stellt ausdrücklich in diesem Sinne ihren Urahn in Gegensatz zu den Göttern. Er ist ein halb unorganisches Wesen: geschlechtslos erzeugt er Nachkommen, indem er im Schlafe schwitzt und ihm zwischen Arm und Leib und zwischen den Beinen Söhne und Töchter entstehen, geschlechtliche, höher entwickelte Wesen also, die sich normal fortpflanzen, wie es die Riesen gewöhnlich tun. Die Sippschaft lebt von der Kuh Authumla, die ebenfalls aus Reiftropfen entstand und aus ihren gewaltigen Eutern vier Milchströme entsendet. Sie nährt sich von dem Reif am salzigen Gestein des Ginnungagap, woran sie immer gierig leckt. Nach langem Lecken der rauhen Zunge an einer Stelle kommt menschliches Kopfhaar zum Vorschein, nach Iängerem ein ganzer Kopf und schließlich eine volle Menschengestalt, ein großer und starker Mann von schönem Äußeren, hellhäutig, blond, blauäugig und aufrecht, Buri. Buris Sohn ist Bor, und dieser hat mit der Riesin Bestla, Bölthorns Tochter, drei Söhne, Odin, Wili und We. So ist das Göttergeschlecht ins Dasein getreten. Angeborene, steinharte Art treibt die Söhne Bors zum Streit gegen die übermächtige, ihnen wesensfremde Ymirsippe, und sie erschlagen den alten Ymir und ertränken seine Nachkommen in den Massen Blutes, die aus seinen Wunden strömen. Nur einer kann sich retten, Bergelmir, und mit seinem Weibe neue Geschlechter der Reifriesen begründen. Und wie ein Jäger sein Wildbret zerlegt an bequemer Stelle, so schaffen die Sieger den Leib des Ymir mitten ins Ginnungagap und zerschneiden ihn. Aus seinen Knochen machen sie Berge, aus seinem Fleisch Erdreich, aus Zähnen, Kiefern und zerbrochenem Gebein Steine und Geröll, aus dem Blute Seen und Meere, besonders das große Außenmeer, das rings um die Erde liegt, aus dem Schädel aber den Himmel, der über der Erde aufgestellt wurde, und an den sie das Hirn des Erschlagenen als Wolken befestigen und die aus Muspellheim sprühenden Funken als Sterne setzen, um Himmel und Erde zu beleuchten. “ Sie wiesen allen Lichtern ihre Stätte an, den einen an der Himmelskuppel selbst, andere bewegten sich frei unterhalb des Himmels, und sie gaben ihnen doch ihre Stätten und bestimmten ihre Bahn.“ So können nach den Himmelslichtern Tage und Jahre festgelegt werden. Jenseits des Außenmeeres dürfen die Riesen siedeln. Zum Schutz gegen sie bekommt die Welt einen Zaun aus den Wimpern des Ymir. so daß sie einer Burg gleicht und M i d g a r d (Mittelhof) heißt. Damit ist die Welt fertig. die wir heute noch sehen. Der schöne Kosmos, an dem alle Wesen sich erfreuen.

 

Als Bors Söhne (nach Völuspa 17,18 waren es Odin. Hönir und Loki) einmal am Meeresstrande entlanggingen, fanden sie zwei Baumstämme. nahmen sie auf und machten daraus Menschen: der erste Gott gab ihnen Atem und Leben, der zweite Verstand und Bewegung, der dritte Gesichtsausdruck. Rede, Gehör und Sehkraft. sie gaben ihnen Kleider und Namen, der Mann hieß Ask und die Frau Embla, und von diesen stammt das Menschengeschlecht ab. dem das Land unter Midgard eingeräumt ward. Für sich selbst bauen die Götter eine hohe Burg mitten in der Welt. Asgard (Asenhof). Die liegt so hoch. daß, wenn Odin auf der Aussichtsstätte Hlidskjalf Platz nimmt, er über alle Welten schaut und alles sieht. Asgard liegt also hoch in Himmelslüften. Der zu den Göttern betende Mensch schaut aufwärts wie Jung Sigurd und die erweckte Jungfrau im Eddaliede und wie der Ampsivarierkönig Boiocalus nach dem Bericht des Tacitus in den Annalen.

Dort. wo Bifröst den Himmel erreicht. liegt nach Snorri die Grenzfeste Himinbjörg. und dahinter erstreckt sich das Asenland wie eine germanische Bauernlandschaft, mit einer Anzahl zerstreut liegender Höfe und einem Dingplatz, Idavellir. etwa in der Mitte, bei dem ein Tempel. und auf dem die riesige alte Esche steht. in deren Schatten. beim Brunnen der Urd. die Asen täglich Gericht halten. die Esche Yggdrasil mit ihren in die tiefsten Gründe des Nebelheims hinabreichenden Wurzeln und ihren hoch über den Himmel emporgestreckten Zweigen. ein außerhalb der Asenschöpfung stehendes Gebilde, das den Eindruck macht. gleichzeitig ein Symbol und ein Kraftbehälter für das Weltganze zu sein. Denn von ihr kommt. wie die Völuspa sagt, der Tau, der in die Täler fällt, immergrün stehe sie am Urdbrunnen, gleichzeitig aber äse ein Hirsch – oder äsen vier Hirsche – in ihrer Krone. und Schlangen benagen ihre Wurzeln, so daß die Nornen, die am Brunnen hausen, täglich mit dessen Wasser sie begießen, damit ihre Zweige nicht verdorren. Yggdrasils Leben wird also gleichzeitig bedroht und beeinträchtigt und andererseits geschützt und gestützt: Hirsche und Drachen entsprechen den Riesen, die Nornen den Göttern, wenn die Esche den Kosmos darstellt, wie es den Anschein hat.

Yggdrasil meint auch die riesenentstammte Seherin der Völuspa, wenn sie von sich sagt:

Weiß von Riesen,
Weiland gebornen,
Die einstmals mich
Auferzogen;
Weiß neun Heime,
Neun Weltreiche,
Des hehren Weltbaums
Wurzeltiefen.

Dies heißt doch wohl: ich kenne das ganze Universum, alle seine neun Teile oder Welten (Heime), auch die unterste, das Nebelheim, in dem Yggdrasils Wurzeln liegen.
Welches sind die neun Welten? Wir erfahren es nicht genau, und die Sache gilt als dunkel. Einige lassen sich immerhin vermuten, Nebelheim, Hel, Midgard, Asenheim, Albenheim. Alle neun aber bekam man schon unter dem Heidentum nicht mehr zusammen. So alt ist diese Weltenlehre mit der urindogermanischen Neunzahl, die in Indien handgreiflich wiederkehrt, auch dort bereits teilweise vergessen und entartet. Woher und von wem sie letztlich stammt, wird nie ergründet werden. So viel aber erkennen wir, daß sie der Lehre von der Midgardschöpfung aus den Leiberteilen des Ymir ursprünglich fremd gewesen ist, ebenso wie die Vorstellung vom Welt- oder Weltenbaum. Diese beiden sind Weltbeschreibungen, Kosmologien, und gehen von der Außenwelt aus. sei es von der äußeren Sichtbarkeit überhaupt. sei es von der Pflanzenwelt; jene ist eine genetische Welterklärung, eine Kosmogonie, und geht vom Menschen aus oder von den menschlich-tierischen Organismen, die, ihr Geist einbegriffen, als das eigentlich Bestimmende und zugleich als die Elemente der Welt im engeren Sinne, der Kosmos innerhalb des Chaos, angenommen werden, zuhöchst die Götter, welche auch den regelmäßigen Gang der Gestirne bewirkt und damit die Zeitrechnung, den Kalender, ermöglicht haben:

Zum Richtstuhl gingen
Die Rater alle,
Heilige Götter,
Und hielten Rat:
(Für Nacht und Neumond
Wählten sie Namen,
Benannten Morgen
Und Mittag auch,
Zwielicht und Abend,
Die Zeit zu messen.)

Die Götter, an ihrer Spitze Odin, sorgen (auch) für den Fortbestand des Kosmos gegenüber den ihn bedrohenden Feinden, diese abwehrend und schwächend durch Plänkeleien an der Grenze Thors Ostfahrten, „um Trolle zu erschlagen“ – und Vorsorge treffend für den großen Tag der Entscheidung in der Zukunft, das vorhin schon erwähnte Ragnarök. Für diesen schweren Kampf sammelt Odin Mannschaft, und zwar sind es die herrlichsten Helden in der frischesten Blüte ihrer Jahre, die er mit Vorliebe wählt zur Abberufung aus dem Diesseits nach Walhall. Dies ist der Grund, weshalb der Krieg so gern die Besten verschlingt, und der Trost für frühen Kriegertod. Im Erbliede auf Eirik Blutaxt fragt Sigmund der Wölsung den Gott, der den tapferen Eirik in Walhall erwartet:

Warum nahmst du ihm das Kampfglück,
Wenn er kühn dich dünkte ?

Und Odin antwortet:

Nicht weiß man gewiß,
Wann der Wolf, der graue,
Auf den Asensitz anstürmt !

Ahnlich fragt im Hakonliede der gefallene König auf der Walstatt unfroh die Walkyrje, die ihn abholen kommt:

„Was schiedest du, Skögul,
So die Schlacht ?
Wir waren doch des Waffenglücks wert!“

und erhält den Bescheid:

„Des walteten wir,
Daß die Walstatt dein:
Doch deine Feinde flieh’n.
Nun laß uns reiten“,
Sprach die reiche Skögul,
„Nach grünen Götterheimen,
Odin zu künden,
Daß ein König naht,
Ihn selber zu seh’n.“

 

Das Leben in Walhall ist so, wie es sich ein Krieger wünscht: erfüllt mit Waffenübungen und Kampfspielen einerseits, reichlichen und frohen Gelagen andererseits, und für jeden mit so viel Ehre, wie er verlangen kann. Als König Eirik naht, gebietet Odin:

„Sigmund und Sinfjötli,
Vom Sitz erhebt euch !
Geht zu der Fürsten Empfang !
Zu uns entbietet ihn,
Wenn es Eirik ist !
Sein harr‘ ich jetzt hier.“

Schon das ist hohe Auszeichnung, mit den Göttern auf derselben Bank zu sitzen, Einherier zu heißen wie sie, und von Odin erwählt zu sein als seine „Wunschsöhne (oskasynir), d. h. Adoptivkinder, Brüder des Thor und des Balder, um einst in seinem Gefolge für den Bestand der schönen Welt gegen die furchtbare Riesenbrut zu fechten. Walhall ist eine Form der Unsterblichkeit, in der alles gesteigert erscheint, daß Genießen so gut wie das Können und Leisten, während das Leben in der Unterwelt Hel ein geschwächtes und kümmerliches ist, eine Art schattenhaftes Hadesdasein. Als Hermod seinem dorthin abgeschiedenen Bruder Balder nachreitet, erzählt ihm an der Brücke des Unterweltflusses Gjöll die Brückenwächterin Modgund, am Tage zuvor seien fünf Scharen toter Männer herübergeritten – „aber die Brücke dröhnt unter dir allein ebenso sehr, und du schaust nicht wie ein Toter aus“. Man sieht den traurigen Zug jener Hunderte vor sich, schlaff, gebückt, leisen Trittes ein Gegenbild nicht nur zu dem vollblütigen jungen Gott Hermod, sondern auch zu Eirik und seinem Gefolge, die stolz, mit donnernden Hufen, über die Walhallbrücke sprengen:

„Männer erwart ich
Aus des Menschen Heim,
Erlauchte Helden,
Drum ist heiter mein Sinn, „

spricht Odin im Eirikliede.

„Was tönt dort, Bragi,
Als ob Tausend sich regten
Oder ein zahlloser Zug ?“

Bragi versetzt:

„Es kracht alles Bankgebälk,
Als kehrte Balder heim
Noch einmal zum Odinssaal.“

Odin:

„Nicht Verworrenes reden
Sollst du, weiser Bragi,
Da du sonst wohl alles weißt:
Von Eirik dröhnt es,
Da er hier einziehen soll,
Der Edle in den Odinssaal.“

 

Wie das Auftreten der Gäste verschieden ist, so dann auch ihre Verpflegung: bei Hel hungert man, während man bei Odin im Überfluß lebt.
Der Grund des Unterschiedes ist der, daß zu Odin die gefallenen Krieger kommen, zu Hel die an Krankheiten oder Alters gestorbenen. Wie auch sonst der Zustand beim Tode maßgebend ist, für den nach dem Tode, so bewahrt der Kämpfer Kraft, Mut und Genußfähigkeit über seinen Fall hinaus, der Sieche und Greis seine Schwäche und Stumpfheit über den letzten Seufzer hinaus.
Diese Aufklärung, die wir Snorri verdanken, ist nicht immer richtig verstanden worden. Das wesentliche an ihr nicht erfassend, hat man sie als Irrtum des Schriftstellers ausgeben wollen, da nach älteren Quellen öfters Erschlagene zur Hel gewiesen werden und umgekehrt zu Odin auch Vergiftete und im Schlaf von der Mahre Getötete gelangen und Egil von ihm die Aufnahme seiner Söhne erwartet, deren einer am Fieber gestorben ist, während der andere ertrank. – Diese Gegenbeispiele beweisen nur, daß neben den Vorstellungen, die wir durch Snorri erfahren, und die so plausibel und sozusagen selbstverständlich sind, auch Wünsche eine Rolle gespielt haben: man wünschte seine Gegner zur Hel und hoffte für seine Freunde auf Walhall. Es kommt hinzu, daß ein schnell hinraffendes Fieber und vollends Tod im Meere dem Fallen im Kampfe der Wirkung nach ähnlicher erscheinen mußten als langes Siechtum und Altersschwäche. Der alternde Egil selbst, der so manchen Strauß bestand, sieht Hel auf dem Vorgebirge seiner warten. Andererseits gab es auch den Glauben, man könne Walhall sich erlisten: wer in Waffen stirbt, kommt zu Odin, hieß es, und ebenso, wer sich in der Todesstunde mit dem Speere ritzt, so daß er kriegsmäßig blutet und dem Odin – der selbst einmal derart rituell geritzt und geopfert worden sein sollte nachzueifern scheint. All dies widerspricht Snorris Lehre keineswegs und hebt vor allem die wesenhafte Ungleichheit von Walhall und Helreich nicht auf, die so merkwürdig ist und einen Reichtum der germanischen Religion darstellt, mag die Doppelheit nun alt oder erst jungen Ursprungs sein. Gewöhnlich nimmt man an, der nur im Norden bezeugte Walhallglaube sei ein Erzeugnis der Wikingzeit oder doch erst wenige Jahrhunderte früher bei den Goten in Südrußland aufgekommen. Diese Vermutungen lassen sich vorderhand nicht widerlegen, und für sie scheint zu sprechen, daß für Walhall kein indogermanisches oder sonst außergermanisches Gegenstück bekannt ist, Hel jedoch sich deutlich verwandt zeigt dem altgriechischen Hades, auch der altbabylonischen Unterwelt mit ihren unholden Beherrscherinnen Ereschkigal und Persephone. Bedenken wir jedoch, was bisher gar nicht bemerkt worden zu sein scheint, die Unterschiedlichkeit des germanischen Totenreiches, und daß sie einander ergänzen im Einklang mit altertümlichem Totenglauben überhaupt, so werden wir eher geneigt sein, das ergänzende Gegenstück zur kraftlosen Unterwelt des Jammers ebenso alt zu schätzen wie diese. Das hellenische Elysium, das parsische Paradies, indische und andere alte Vorstellungen von jenseitiger Glückseligkeit mögen mit Walhall in geschichtlichem Zusammenhang stehen. Wie wir allen Grund haben, für die Elemente der altgermanischen Weltanschauung hohes Alter anzunehmen, so kann andererseits davon die Rede sein, daß solche noch im Mittelalter nachleben. Dahin gehört der Begriff Muspell oder Muspilli in der Bedeutung von Weltuntergang, den geistliche Schriftsteller wie der Helianddichter und der Verfasser der bekannten stabreimenden Weltuntergangspredigt aus dem Bayern des 9. Jahrhunderts gebrauchen; vor allem gehört dahin aller Wahrscheinlichkeit nach die Mystik eines Meister Eckart, der den Gott im eigenen Innern erfuhr und dadurch das Mißfallen der kirchlichen Behörde erregte, jedoch nichts anderes erlebte als etwa der heidnische Skalde Glumr Geirason, der von Harald Graumantel sagt, Sigtyr selber (d. i. Odin) sei in ihm gewesen, als er todesmutig kämpfte, oder als Egil, der die offene, rasche Sinnesart, deren er froh war, dem höchsten Germanengott zu verdanken sich bewußt gewesen ist. Die gestaltlose Religiosität, die Tacitus seinen Germanen zuschreibt, lebt ebenfalls im Mittelalter nach; secretum illud, quod sola reverentia vident, machte sich im 14. und 15. Jahrhundert bei den Deutschen ähnlich geltend wie bei ihren Vorfahren um den Beginn unserer Zeitrechnung, wie es auch noch in Fausts Bekenntnis gegenüber Gretchens banger Frage deutlich anklingt. Und wenn vor 60 Jahren der Führer des Deutschen Reiches bei einem Staatsbegräbnis die Worte sprach: „Gehe ein nach Walhall, toter Feldherr!“, so erneuerte er auch damit ein Stück alten Glaubens; er traf, wie man behauptet hat, mit diesem Wort in den Mittelpunkt der germanischen Weltanschauung.

Die Behauptung trifft insbesondere unter dem Gesichtspunkt zu, daß die germanische Weltanschauung verschieden ist von der christlichen. Walhall unterscheidet sich vom christlichen Himmel so, wie bereits angedeutet: die Walhallgötter sind innerweltliche Freunde der Menschen, keine außerweltlichen Bestrafer; die Ragnarökkatastrophe ist etwas anderes als das christliche Weltgericht am Jüngsten Tage. So wußten auch die ungetauften Germanen noch nichts von irgendwelcher Erlösungsbedürftigkeit.

Auf das Ende des Weltganzen, dessen die Alten sich versahen, reagierten sie mit Sorge und entschlossener Bereitschaft als den ihnen angebracht erscheinenden Haltungen. Sie haben ihren beispielhaften Ausdruck gefunden in Odin, dem Führer und Gefolgschaftsgott. Aus dieser Haltung der Sorge heraus ist er der Gott, der beständig auf Fahrt sich befindet, um mit allen Mitteln die Frage nach dem dunklen Schicksal zu stellen, es zu ergründen und zu erkunden. Und aus dieser Haltung der Bereitschaft heraus sammelt er eine Gefolgschaft im Jenseits aus toten Führern und Helden, die sich in einer Art zweitem Leben um ihn versammeln für den großen Endkampf. Über den klaren Sippengedanken im Bau der Welt legt sich ebenso klar eine Gefolgschaftsmetaphysik im Sinn ihres Verlaufs.

Man hat früher nur wenig beachtet, welche ungeheure Rolle die Führer- und Gefolgschaftsidee im Denken, Dichten und Handeln Altgermaniens gespielt hat. obgleich uns die zwei klassischen Kapitel. die Tacitus ihr widmet, und die vom Rausch und der Macht des bündischen Gedanken geradezu erfüllt sind, darauf hätten hinweisen sollen. Worin beruht die Tragik des Nibelungenepos? Darin. daß mit Siegfried nach Worms ein Führer ohne Gefolgschaft kommt in eine Gefolgschaft ohne eigentlichen Führer. Das führt notwendig zu seiner Ermordung. Sie beruht weiter darin. daß eine Gefolgschaft sich weigert. einen ihrer Leute. nämlich Hagen, an die Rächerin auszuliefern: lieber lassen sie sich sämtlich in Stücke schlagen. So kann man beide Teile unseres mittelhochdeutschen Nationalepos auf eine einfache Formel aus diesem Bezirke bringen.

Man sage nicht, das erstrecke sich nur auf die Dichtung. Wie viele von uns wissen, daß es einen jungen Germanenführer Fulkaris gab. der unter dem Oberbefehl des Narses nach dem Sturz der Gotenherrschaft in der Poebene gegen Alemannen und Franken stehend, an einem römischen Grabmonument nach verlorener Schlacht. auf äußerstem Posten die Flucht verschmähend – ein germanischer Leonidas – zusammen mit einer Gefolgschaft den Heldentod starb? Wie viele kennen die Geschichte von dem jungen norwegischen Führer Sverrir im 12. Jahrhundert, der sich sein Reich einzig mit Reden und einer kleinen, auserlesenen Truppe eroberte? Als er seine ersten Erfolge hinter sich hatte, musterte er sein Gefolge aufs peinlichste. behielt nur 80 von 400: aber 320, deren Motive unehrlich waren. schickte er heim. So redete er (eine schöne Rede gegen die Trunkenheit ist erhalten), so handelte er. und nur so eroberte er sich sein Reich.

Walhall bedeutet die Übertragung der Idee von der Elitegefolgschaft ins Metaphysische. Die Herrlichsten kommen zu Odin, dem göttlichen Gefolgschaftsführer. dem Herrn der Klugheit. Staatskunst. männlichen Tatkraft und der Redegabe. Die Quellen zeichnen uns oft und ergiebig dieses Bild. Ihm ist das Regiment der Welt, die Erkundung ihres Schicksals, die Sorge über das Schicksal übertragen. Indem diese Idee vergöttlicht wurde zum Herrn der Welt und der Weltperiode, seine Halle zum Sammelpunkt aller guten germanischen Führer und Gefolgsleute. die er um sich schart für den Tag der Tage, indem also Ziel und Mittelpunkt der Welt eine jenseitige Gefolgschaftshalle und der Ablauf der Welt ein Sammeln der Elite für den letzten Aufbruch wurde, – ist in Wahrheit das Gefolgschaftswesen zum Weltprinzip erhoben worden für das Ganze wie für das Einzelschicksal, und damit ist die germanische Metaphysik zu einer Gefolgschaftsmetaphysik geworden. Er sinnt, erkundet und sorgt, er wird wissen, wann er das Zeichen zum Aufbruch zu geben hat. Diesem großen Bilde führen alle Quellen unweigerlich zu. Daß aber dieser ständige Hinblick auf die Welttragödie nicht nur dichterischer Spekulation einiger geistreicher Köpfe Germaniens entsprang, zeigen zwei Stücke, die deutlich dem Volksglauben angehören: Beim Schustern muß man die Lederabfälle wegwerfen. Sie werden die Sohle des Gottes Widar verstärken, mit der er einst in den Rachen des Wolfes tritt, um seinen von diesem verschlungenen Vater Odin zu rächen. Und man muß den Toten die Nägel gut beschneiden, weil ungepflegte Nägel der Toten das Baumaterial des Dämonenschiffes Naglfar bilden, das eine furchtbare Schar feindlicher Mächte zum großen Endkampf heranführen wird. Das Bewußtsein der Verbundenheit mit Gott und Welt und der Schicksalgemeinschaft zwischen Mensch, Gott und Welt kann nicht rührender zum Ausdruck kommen als so.

Aber der Verlauf selbst liegt in den Händen des Schicksals, das Welt, Menschen und Götter regiert. „Was geschehen soll, das geschieht“, ist ein Satz, der weithin bis ins hohe Mittelalter ganz Germaniens Denkart bestimmt. Entzogen dem Schicksal ist nur die Haltung. mit der ich es trage.

Die Götter töten den Wolf nicht. sie töten auch Loki nicht, als beide sich einmal in ihrer Gewalt befinden. Das ist weder dumm noch unpraktisch, sondern ein mythischer Ausdruck der schicksalhaften Notwendigkeit des Weltverlaufs. Als Thor die Midgardschlange vorzeitig töten wollte, gelang ihm dies nicht. Denn das Schicksal selbst ist bestimmt und läßt sich nicht ändern. Aber frei ist die seelische Haltung ihm gegenüber und während seines Verlaufs. Dies ist der heroische germanische Schicksalsglaube, den man nicht mit pietistischem Fatalismus verwechseln darf. Er ist gewissermaßen eine zweite, ja vielleicht ist er die eigentliche germanische Religion. Er kann sich entwickeln bis zu einem ausgesprochenen Amor fati. „Das Notwendige verletzt mich nicht; Amor fati ist meine innerste Natur“ (Nietzsche).

Es war ja niemals so, daß der Schicksalsglaube erst wuchs, als der germanische Götterglaube dahinsank. Es handelt sich immer um zwei ganz getrennte, inkommensurable Größen, die nebeneinander stehen. Die Götter sind große Freunde, sie geben und schenken Frieden und Ernte. Mag sich die ruhige, geschichtslose Lebensgemeinschaft daran genügen lassen. Aber beim Eintritt in das geschichtliche Leben erhebt sich das Schicksal.

Und die sonstige Unbeugsamkeit dieser Götter und Menschen unterwirft sich ihm unbedingt und fast resigniert. Aber nur bis zu jener bestimmten Grenze der inneren Haltung. Wie man sich gegenüber dem Schicksal benimmt, ist die Sache der Ehre. Hier gibt es weder Flucht, noch Auflehnung, noch Betrug, noch Angst, noch Furcht, aber auch keine Selbstaufgabe. Sorge ist nicht Angst. Angesichts des Schicksals erst erweist und findet sich der Mensch. Das germanische Ethos hat wenig Bezug auf die Götter, aber viel auf das Schicksal. Weniger vor den Göttern als vor dem Schicksal beginnt und gilt die sittliche Selbstbeherrschung. Es hat keine Macht über die Ehre. Bei allem Pessimismus ist so ein tiefster sittlicher Optimismus und damit eben der Amor fati möglich. Ja, das Schicksal fördert und fordert diese Haltung und gibt Gelegenheit durch allerlei Mittel, sie einzunehmen. Was da von außen kommt, bleibt nicht fremd, sondern wird nur ein anderer Ausdruck des eigenen Wesens und als solcher aufgesucht und bejaht. Die Götter sind Brücke und Ideen der Gemeinschaften, aber das berührt die einzelne Seele und ihre Haltung allein. Freilich war die Gefolgschaft eine Schule zu solcher Haltung und Ehre.

Dieser Schicksalsglaube hat einen durchaus religiösen Grundcharakter. Das Schicksal ist wie ein numen, das eigentlich Unerforschliche gegenüber den so viel menschlich verwandteren Göttern, sozusagen der „unbekannte Gott“ schlechthin, mit dem ein Freundschaftsverhältnis jener Art kaum möglich ist. An diesem Schicksalsbegriff wuchs möglicherweise schon auf heimischem Boden jener andere, tiefere, höhere, außer- und überweltliche, transzendente Gottesbegriff heran, den nachher die fremde Religion in Germanien allgemein verbreitet. So kommt es, daß der Christengott viel mehr an die Stelle dieses Schicksals treten konnte, als an die Stelle der andern Götter, die er unterwarf, und die er degradierte, die aber neben ihm und unter ihm weiterexistieren konnten. Daß dies Schicksal persönlich gedacht werden konnte, beweist die Erscheinung der Nornen.

Von den Göttern kann der Mensch sich lossagen, wie man sich von Freunden und mächtigen Herren lossagen kann, aber vom Schicksal nicht. Noch Wolframs Parzival lehrt, daß man sich diesem transzendenten, außerweltlichen, übermächtigen Schicksalsgottbegriff auf keine Weise mehr entziehen kann, wie sehr man ihm auch nach der alten Art die Freundschaft aufgekündigt hatte.

Aber das Schicksal, nicht etwa einer der viel ohnmächtigeren Götter, läßt am Ende ein Ende der Dinge überhaupt nicht zu. Das liegt nicht in seinem unablässig sich abrollenden Plan. Auf das Ende folgt immer ein Anfang. Hinter der Götterdämmerung liegt ein neuer Beginn der Welt. Neben der Urerfahrung „Nichts hat Bestand“ steht die andere Urerfahrung „Alles kommt wieder“.
Die neue Welt ist ein verjüngtes Abbild der alten. Erde und Sonne, Menschen und Götter, Midgard und Asgard, ungesäte Äcker und goldenes Brettspiel: alles ist wieder da, Bauern- und Herrenträume gehen aufs neue in Erfüllung. Die Gesamtlage der Kräfte ist mit gleicher Waage wieder da. Zwar fehlt Thor, wohl aber ist sein Hammer wieder da und seine Söhne. Zwar fehlt Odin, wohl aber ist sein Sohn Widar wieder da, der ihn am Wolfe gerächt hat. Man sieht, ein Generationsdenken spielt in die Weltwechselvorstellung mit hinein. Der Gegenschlag ist wieder vorbereitet, der Grundsatz der Rache ist gerettet. Ganz natürlich ist die Empfindung: wer Odin rächte, wer Balder rächte, der muß wieder da sein, denn er stellte die Weltordnung wieder her. Rache gehört wie Sonne, Himmel, Erde und Acker zu den klaren Selbstverständlichkeiten im Bau der Welt. Und auch die Gegenseite ist wieder vertreten: Nidhögg, jetzt der Repräsentant der dämonischen Welt, hat sich nur ins Dunkel geflüchtet, aus dem er eines Tages wieder hervorbrechen wird. Hier ist eine ewige Wiederkehr anzusetzen, gänzlich jenseits von Gut und Böse, die ihr zweites germanisches Beispiel nur bei Nietzsche fand. Fertig wieder zum alten Geschick ist die Welt, randvoll ausgestattet mit der gleichen Gesamtlage der Kräfte, notwendig zum gleichen Ablauf bestimmt. Die ewige Wiederkehr ist die letzte Folge nordischen Denkens, des Schicksalsglaubens, des Amor fati …

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10. Heidnische Ideale

Schwur der Germane vor dem Taufbecken „dem Teufel und allem Teufelsopfer“ ab, d. h. den alten Göttern und ihrem Dienste -: damit hätte er sein Gut und Böse noch nicht verleugnet; eben weil diese heidnische Sittlichkeit so wenig im Jenseitsglauben wurzelte. Doch kamen ja mit dem neuen Gott und dem neuen Teufel auch neue Sittengebote. Es waren nicht die des Urchristentums; sonst hätte der Täufling geradezu in eine neue Haut fahren müssen. Was man ihm predigte, war eine stark verwandelte Jesuslehre, dem Weltlauf angepaßt, einerseits ihrer schroffen Unbedingtheit entkleidet, anderseits mit Formendienst und Werkfrömmigkeit beschwert.

Wie der Germane in diese Sittlichkeit hineinwuchs; welche Brechungen und Mischungen sich da ergaben, hat die Historie zu untersuchen. Uns genüge ein Ausblick, welche Seiten an der altgermanischen Sittenlehre vor anderen das Unchristliche, den Gegensatz zu den Idealen der Kirche bezeichnen.

Es wird zum Teil ein Rückblick sein; da und dort tragen wir in die früher gezogenen Linien eine Ergänzung ein. Hier, wie überall, wo es auf das Intimere ankommt, sind die isländischen Zeugnisse unsere Führer.

In dieser Kriegerethik schätzt man bis zur Einseitigkeit die harten Eigenschaften am Menschen. Härte gegen sich selbst wie gegen Freund und Feind. Also auch keine Kreuzträgerei, kein Mitleiden und kein böses Gewissen!

Altdeutsche Männernamen wie Steinhart, Stahelhart enthalten ein Wunschbild; wir wissen, ein nicht immer verwirklichtes! Bei Süd- und Nordgermanen finden wir das Wort „einhart“: zunächst „eigenwillig, unbeugsam“, dann auch soviel wie „zuverlässig, ehrenhaft“; bezeichnend, daß der Messiasdichter es umwertet zum Ausdruck für die verstockten Hohepriester!

Diese erstrebte „Einhärte“ schließt innern Kampf nicht aus, vorübergehende Spaltung des geschlossenen Ich: schon alte Heldenstoffe stellen Widerstreit der Pflichten oder Neigungen ins Licht. Auch Reue über den eigenen Schritt konnte schon in heidnischen Herzen keimen, mochte man nun den bösen Rat eines Dritten anklagen oder die Reizung durch die geheimnisvollen Schicksalsmächte.

Wille und Tat, das verlangt man vom Manne. Das Wehrhafte und Trotzige gilt höher als das Nachgiebige und Versöhnliche. Denn in dieser Welt der Selbsthilfe und der Unsicherheit ist das erste, daß einer sich und die Seinen schützen kann; und wer handfest zu schützen weiß, hat leicht auch Herz und Faust zum Angriff.

„Man sah bald, daß er ehrgeizig war, hart und ein Hasser“: lesen wir dies von einem Knaben, so wissen wir schon: das ist als Lob gemeint, das verspricht einen Helden.

Die Beiworte „gütig, umgänglich, verträglich“ haben guten Klang – wenn zur rechten Zeit die Härte da ist und außer Zweifel steht! Friedensliebe ziert den Tapfern; sie ist verächtlich, wo sie den Kampfmut ersetzt; wo man sie als Schwäche deuten kann. Über die Staatsbürgertugenden der Ordnungsliebe und Gerechtigkeit ragt hoch hinaus das Ehrgefühl; wir lernten es kennen als die wahre Triebkraft in Fehde und Frieden. Es ist von erstaunlicher Reizbarkeit; man sagt sich: diese Männer müssen Tag und Nacht über dem zerbrechlichen Gut ihrer Ehre wachen! Ihr Ehrgebot ist ihr Zwingherr.

Im tiefsten unchristlich ist ferner: daß man sich offen und freudig bekennt zum Stolz und zum Machttrieb. Wer das Zeug dazu hat, soll der Erste in seiner Landschaft sein wollen. Das „Wer sich selbst erniedrigt …“ fände in diesen Herzen keinen Widerhall. Dem Willen zur Macht gehört die Zuneigung des Erzählers und seiner Hörer. Sie verstehn und billigen es, daß ein Herrenhafter nie und nirgends gewillt ist, „seine Sache (sein Recht) fahren zu lassen“; auch ein friedliebender, nicht herrschsüchtiger Jarlserbe läßt es eher auf Zwist mit dem Bruder ankommen, als daß er seinen Reichsanteil beschnitte.

Mit Mitgefühl folgt man dem Selbstbewußten, den das Schicksal beugt. Etwas Neues ist in den christlichen Geschichten der Blick der Genugtuung, der den Sturz des Mächtigen trifft. Soweit in den Sagas Voreingenommenheit und Schadenfreude besteht, richtet sie sich weit weniger gegen den Gewalthaber und Unterdrücker als den Duckmäuser und Leisetreter. Auch gegen den Emporkömmling. Denn der Adelsstolz wirkt auch hier auf das Urteil ein; der Wohlgeborene darf sich mehr erlauben, man traut ihm besseres zu.

Die altnordische Sprache kennt das kaum übersetzbare Wort „Mikil-menni“. Sein Sprachsinn ist „Großmann, Mann von großer Art“. Das Wort kann auf das gesellschaftliche Ansehen gehn, auf Einfluß und Bedeutung im allgemeinen. Zuweilen verstärkt sich sein ethischer Beiklang, und wir können ungefähr mit „Herrenmensch“ übersetzen; der Großzügige im Machtwillen wie im Schenken und Helfen. Ihm steht das „Litilmenni“ gegenüber: der „Lützelmann“, der Mann kleinen Zuschnitts; dem vor jedwedem bangt und den die Gabe reut, wie wir es bei dem Sittendichter lasen (Abschnitt 5); der „Spießbürger“ in dieser waffentragenden Landwirtsgesellschaft.

In der Art, wie man das „Mikilmenni“ und das „Litilmenni“ einschätzt, zeigt sich so recht die Umwertung unterm neuen Glauben. Um die neue Tugend der Demut germanisch zu benennen, mußte man zu Wortstämmen greifen, die den Niedrigen oder den Knecht meinten; Demut war in der Tat, nach der altern Anschauung, Knechtsgesinnung. Das offene Bekenntnis zum Herrenmenschen fließt aus einem Lebensstil, der nicht nur Krieger-, sondern auch Herrenmoral heißen darf. Es ist ewig schade, daß Nietzsche, der Verkünder dieser Wertung, die Isländersagas nicht kannte! Diese erdenfesten Urkunden hätten seinem mehr aus Sehnsucht als aus Anschauung geborenen Bilde Blut einflößen können.

Das „Liebe deinen Nächsten“ oder in kühlerer Fassung: „Schade keinem, vielmehr hilf jedem, so gut du kannst“ lag nicht im Bereich des heidnischen Fühlens. Statt der allgemeinen Menschenpflichten herrschte die große Zweiteilung in Freunde und Unfreunde. Dem Außenstehenden kann man mit Gutmütigkeit begegnen und nach den Umständen sogar hochherzig; ein paar Sagastellen bezeichnen es als Glücksstern eines Mannes, daß er Fremde aus Seenot retten konnte.

Freunde waren die geborenen und geschworenen Zugehörigen (Abschnitt 4); die, denen man vertraute, auf deren „Frieden“ man zählte, auf deren Hilfe man hoffte. Hingabe verlangt man nur im Lager der Freunde. Hier aber übt man sie mit einer Selbstverständlichkeit und Großzügigkeit, die in Staunen setzt. Es ist da vor allem an die Fehde zu denken. Das Zusammenhalten der Partei, in Angriff und Abwehr, bedeutet jedem einzelnen selten weniger als den Einsatz der Habe und Heimat, der Gesundheit und des Lebens; oft genug zugunsten eines Menschen oder einer Sache, die den Helfer kühl ließen. Die Opfer, die man da bringt, sind so groß, wie kein Gesetz allgemeiner Nächstenliebe sie abverlangt. Wieder handelt man da mehr unter dem Antrieb des Ehrgefühls als dem der Herzensneigung: wer nicht hilft, wo mans ihm auf die Seele bindet, kann einbüßen an seinem Häuptlingsansehen oder seinem Waffenruhm oder gar den Namen des Neidings zu hören bekommen. Begriffe wie Selbstlosigkeit und Aufopferung handhabt man da nicht; in der Partei waltet etwas wie der Gemeingeist der Truppe an der Front.

Das Kehrbild ist die Stellung zu den „Unfreunden“. Ohne solche kommt wohl keiner durchs Leben, der Herrenmensch schon gar nicht. „Gut gegen seine Freunde, haßvoll gegen seine Feinde“: diese Formel wendet man nicht etwa auf jeden Ehrenmann an, sie bezeichnet gewisse härtere Machthaber; doch steckt Bewunderung in ihr.

Man darf hassen und sich zum Hasse bekennen. Wir sahen, wie Rache etwas Heiliges ist und Verzeihen unter Umständen todeswürdig. Dennoch, daß man hassen müsse, träfe nebens Ziel; das ungeschriebene Gesetz lautet vielmehr: Vergib dir nichts gegen deinen Feind!

Du magst dich mit ihm vertragen – wenn jeder dir zutraut, daß du Manns genug wärest, den ändern Weg zu gehn! Je mächtiger du bist, um so eher kannst du einer versöhnlichen Regung folgen und das Herrengefühl der Großmut kosten. Eine Versöhnung, die dich ehrt, ist gut. Nur kein Nachgeben aus Furcht, nur kein Zeichen der Schwäche!

Als einen isländischen Herrn der Schneesturm zwingt, bei seinem Prozeßgegner, dem Skalden Björn, einzukehren, da ist Björn zwar zu aller Gastfreiheit gewillt, aber bis zum ersten Morgen verhält er sich karg, ja kränkend, denn – wie er nachher selbst erklärt – die Gegner sollen nicht sagen können, er habe sich die Versöhnung erschmeicheln wollen! (Thule9,120 ff.).

Endlich noch eine Seite, die mit behutsamer Hand angefaßt sein will!

Ein Unterschied der heidnisch-germanischen Sittlichkeit von der jüdisch-christlichen liegt sicher darin: welchen Rang man überhaupt dem „Gut und Böse“, den sittlichen Lust- und Unlustgefühlen, einräumt; und damit zusammenhängend: wie scharf man den Strich zieht zwischen ethischer und andersartiger Wertschätzung.

Es ist kaum zu bezweifeln, ein so feierliches, einseitiges Betonen der sittlichen Gegend, wie wir es von Palästina gelernt haben, setzt starke religiöse Unterbauung des Gut und Böse voraus und noch andere Bedingungen, die auf die alten Germanen so wenig zutrafen wie auf die alten Griechen. Wie bei diesen, so hat man in der Saga den Eindruck, auch bei fraglosen Stützen der Gesellschaft, daß zeitenweis die sittliche Rücksicht einfach aussetzt, und zwar ohne daß es die Umwelt oder den Hörer befremdete. Die Waage von Lust und Unlust bewegt sich oft nach dem „Mannesunterschied“, nach außersittlichen Vorzügen der Beteiligten, wo eine radikalere Denkart mit gleichem Gewichte wöge. So haben denn einige frischweg verallgemeinert zu Sätzen wie: „Diese Leute fragten überhaupt nicht so sehr den moralischen Eigenschaften nach“ oder „Dem Helden war alles erlaubt“.

Damit erliegt man doch wohl einer Verwechslung; man unterscheidet nicht, ob die sittliche Gegenwirkung überhaupt schwach ist, oder ob der uns geläufigen Sittlichkeit eine andere den Weg verstellt.

Die neuere Staatsbürgersittlichkeit mit dem Einschlag von Bergpredigt liegt, wir betonten es, von der germanischen Krieger- und Herrenethik besonders weit ab; mit einem Maßstab zu messen, geht hier am wenigsten an. Was aber nach germanischem Maßstab als gut galt, das Ehrgefühl mit seinen Ausstrahlungen: kann man eigentlich sagen, daß man dem wenig nachfragte? Wer ein paar Fehdegeschichten gelesen und die erste Gänsehaut überwunden hat, wird wohl eher zu dem Schlüsse kommen: daß die Kriegerehre eine strenge Herrin war, kaum weniger anspruchsvoll als eine Klosterregel. Und wenn dem Helden viel erlaubt ist, so doch nicht das Unheldische! Versagt er in Wagemut, Selbstbeherrschung, Hilfsbereitschaft, in Rache und Treue, dann brandmarkt es ihn stärker als den „Kleinmann“. Das Herrentum ist nicht nur ein Vorrecht; es verpflichtet auch.

Oft sieht es so aus, als unterliege das sittlich Gute dem Nützlichen und Selbstischen, während in Wirklichkeit zwei ethische Forderungen im Wettkampf stehn. Ein wiederkehrender Fall: das Sippenhaupt verurteilt die Gewalttat seines Angehörigen, und doch gibt es ihn nicht preis dem Recht zuliebe: es greift zur Waffe für ihn. Da steht Schutzpflicht gegen Rechtssinn. Andere Male steht Racheverlangen gegen Verträglichkeit; Heldensinn gegen Friedensliebe.

Diese Kräfte setzen sich im Leben recht wechselnd auseinander; es geht nicht nach der Richtschnur! Wo sich aber das schroffe Entweder-oder erhebt, da wird sich der Herrenmensch für die persönlicheren Antriebe entscheiden. Eigene Größe und Unbescholtenheit, die Bande der Sippe und Freundschaft, diese persönlichen Mächte ordnen sich über den unpersönlicheren, gedanklichen: der Gerechtigkeit und Wahrheit, dem Frieden, auch dem Gemeinde- und Staatsgefühl.

Denn jene persönlichen Mächte sind stärker vom Ehrgefühl betont, und das Ehrgefühlstellt die Stufenleiter der sittlichen Werte her. Gerechtigkeits- und Friedensliebe sind Tugenden, die man lobt, aber Tugenden zweiter Ordnung: es war „kleiner Leute Art“, dem Rechte die eigene Ehre oder den Freund zu opfern, dem Frieden zuliebe eine Kränkung einzustecken.

Da zeigt sich uns noch einmal die Kluft, die den heidnischen Germanen von dem christlichen Staatsbürger trennt.

 

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