Geschrieben von: Torben Rahn |
Der mythische Hintergrund des DornröschenmärchensDen Wortlaut brauchen wir hier nicht zu bringen, da jeder von uns Grimms Märchen hat. Es geht uns um die Erfassung des Sinngehalts des Märchens. Das 1812 von den Brüdern Grimm nach mündlicher Überlieferung in Kassel aufgezeichnete und in dieser Fassung sehr volkstümlich gewordene Dornröschenmärchen (KHM Nr. 50) scheint vordem auf deutschem Boden nicht sehr verbreitet gewesen zu sein, was jedoch nicht zu der Meinung verleiten darf, als hätten wir es mit einem uns fremden, aus ausländischem, etwa dem französischen (Perrault 1696) oder italienischen (Basile 1637) Kulturkreis entlehnten Märchenstoff zu tun. Vielmehr kann heute wohl als sicher gelten, daß die zahlreichen Spielformen dieses Märchens, denen wir in fast allen europäischen Ländern begegnen, einschließlich der uns durch Grimm überlieferten „klassisch“ gewordenen Fassung auf eine indogermanische gemeinsame mythische Wurzel zurückgehen – wobei die durch Grimm aufgegriffene „klassische“ Fassung tatsächlich auf eine französische Quelle zurückzugehen scheint -, deren Inhalt durch Vergleich der vorliegenden Fassungen rückschauend wiederherzustellen keine allzugroßen Schwierigkeiten bereiten dürfte. Es wird zu diesem Zweck freilich notwendig sein, nicht nur die Märchenfassungen unter sich, sondern diese in ihrer Gesamtheit auch mit verwandtem Überlieferungsgut aus dem Bereich der nordischen Heldensage, insbesondere mit dem Mythenkreis um Siegfried zu vergleichen. Schon den Brüdern Grimm hat sich ein Vergleich der Dornröschenformel mit der Siegfried-Bründhildsage aufgedrängt, und die nahe Verwandtschaft ist in die Augen springend, wenn es auch wohl nicht angeht, das Dornröschenmärchen aus der Heldensage unmittelbar abzuleiten oder umgekehrt, was beides schon versucht wurde; vielmehr sind wohl Märchen- und Sagenformel verschieden gebaute und verschieden alte Zweige desselben Stammes, also einem in früheste Urzeiten zurückreichenden, gemeinsamen mythischen Grundmotiv entsprungen zu denken. Dieses indogermanische Grundmotiv mag, auf eine ganz kurze Formel gebracht, etwa folgenden Inhalt gehabt haben: Eine Jungfrau von hoher Abkunft wird durch eine Widermacht von Schicksalscharakter in Zauberschlaf versenkt und ruht in diesem Zustande, gegen die äußere Welt durch unüberwindliche Umzäunung abgeschlossen, so lange, bis „die Zeit erfüllt“ ist und ein junger, strahlender Held als der vom Schicksal dazu Erwählte („der Rechte“) und an den bestimmten Ort Geleitete in die Abgeschiedenheit der verzauberten Jungfrau eindringt, durch seine sieghafte Kraft den Schlafbann bricht und sich mit der Befreiten nach dem Willen des Schicksals vermählt. Zu dieser, durch Motivvergleich rekonstruierten „Urfassung“ geben uns die zahllosen Einzelfassungen diesbezüglicher Märchen und Heldensagen wertvollste Aufschlüsse über Zufälliges und Typisches der einzelnen Fassung und über die innere Berechtigung unserer Rekonstruktion im ganzen. Ohne allzuweit in Einzelheiten abzuschweifen – was dem praktischen Zweck dieser Darstellung nur hemmend im Weg stünde -, seien doch an Hand des vorliegenden Märchens zu den hauptsächlichsten Teilmotiven einige Erläuterungen mitgeteilt, um die innere Berechtigung unserer konkret nirgends vorhandenen, aber dennoch innerlich wahren, rückerschlossenen Grundformel nachzuweisen. Wir geben diese Erläuterungen an Hand der oben gesperrt gedruckten Teilmotive:
2. Teilmotiv: „Widermacht vom Schicksalscharakter“, im Dornröschenmärchen sind es 12 „gute“ und 1 „böse“ Fee; ihre Zahl wandelt sich in den einzelnen Spielformen des Märchens nach dem Gesetz der Zahlenverschiebung: bei Perrault 1696 („La belle au bois dormant“) 7 (junge) + 1 (alte), oft sind es in verwandten Märchen und auch in Kinderreimen 3 + 1, im altfranzösischen Prosaroman Perceforest (1528) 3 „Göttinnen“, von denen eine die Unheilbringerin ist. Die Feen „erscheinen vielfach bei der Geburt eines Kindes, um sein Schicksal zu bestimmen und es zu begaben“ (Bolte-Polivka I, S. 439); sie sind nichts anderes als die altgermanischen Nornen oder griechischen Moiren oder slavischen Wilen, die das Schicksal des Menschen weben und schon bei der Geburt die „schwarzen und die heitern Lose“, das gute und das böse Schicksal in Händen halten und zuteilen. Die Dreizahl der mütterlichen Schicksalsfrauen kann bis auf die Einzahl der im Märchen ebenfalls häufigen Urmutter-Hexe zurückgeführt werden, die in sich selbst die Doppelgestalt des Schicksals verkörpert (vgl. Frau-Holle-Motiv!). Auch für diese Abwandlung des Schicksalsgedankens gibt es Belege unter den Spielformen des Dornröschenmärchens. Es braucht uns auch nicht zu beirren, wenn die Schicksalsmacht mitunter in männlicher Personifikation auftaucht: in einer italienischen Spielform unseres Märchens (Basile 1637: „Sole Luna e Talia“) erscheinen statt der Feen Wahrsager, und in der Sigurdmythe ist es der Schicksalsgott Odin, der die Walküre mit dem Schlafdorn sticht; doch würde es zu weit führen, hier die inneren Gründe für die zwiegeschlechtlichen Auffassungsmöglichkeiten der Schicksalsmacht im Mythos zu erörtern; wir begnügen uns mit der Feststellung des tatsächlichen Befunds. 3. Teilmotiv: „Zauberschlaf“: es ist allen wesentlichen Spielformen von Märchen und Sage gemeinsam. In diesem Motiv kommt ein Innehalten des strömenden, fließenden Lebens, ein Stillstand, eine Stockung der Wachstumskräfte zum Ausdruck. Der Schlafdorn Odins entspricht der stechenden Spindel bzw. der Flachsfaser der Schicksalsfrauen, doch scheint der Schlafdorn die ältere Vorstellung zu sein. Die Spindel ist seit alters kennzeichnendes Attribut der schicksalspinnenden urmütterlichen Gestalten, ein in unzähligen Märchen vorkommendes Motiv. 4. Teilmotiv: „gegen die äußere Welt durch unüberwindliche Umzäunung abgeschlossen“: es ist ein gemeinsamer Grundzug des sogenannten „Erlösungsmotivs“ in Märchen und Saggut, daß die zu befreiende Jungfrau an irgend einem unzugänglichen, gegen die übrige Welt scharf abgegrenzten Orte von der Widermacht bis zur Befreiung festgehalten wird; sie ist „die schwer Erreichbare“. Orte solcher Abgeschiedenheit vom strömenden Leben sind etwa – um nur einige bezeichnende Beispiele zu nennen -: der unzugängliche Turm (Rapunzel), das verwünschte, durch irgendwelche Hüter der Schwelle bewachte, festummauerte Schloß oder die Burg auf hohem Berge (Mengläd), der Fels über dem Meer (Brunhild), das Haus „hinter den sieben Bergen“ (Schneewittchen), der Käfig (Jorinde), das Hüttchen (Hänsel und Gretel) u.a.m. Oft treten, wie im Menglädmotiv des Fjälswinnliedes der Edda, die Motive der Abgrenzung gehäuft auf: Mengläd wohnt in einer uneinnehmbaren Burg auf hohem Berge, nicht nur durch unbezwingliches Gatter und unübersteigliche Mauern, sondern auch durch Waberlohe, einen wachsamen Hahn, wilde Hunde, die Tag und Nacht um die Burg kreisen, und endlich durch einen „vielgeschwinden“ (Fjälswinn) riesischen Wächter vor jedem unberufenen Eindringling geschützt. Wir dürfen nun freilich nicht nur die negative Seite dieser schicksalhaften Abtrennung vom Leben, dieses Gefangengehaltenwerdens, dieser durch den Eingriff der Widermacht hervorgerufenen Lebensstockung sehen. Diese Abgrenzung ist der heilige Bezirk, innerhalb dessen das Leben in Ruhe der kommenden Verwandlung entgegenreift. Denn es entspricht einem allgemeinen Naturvorgang, daß überall, wo das Leben einen entscheidenden Schritt in eine neue Entwicklungsstufe hinein vorbereitet, das Leben zunächst innehält, um tief Atem zu holen, und eine Abgrenzung nach außen unter gleichzeitiger Konzentration aller Kräfte nach innen vollzogen wird, wozu der Puppenzustand des werdenden Schmetterlings, der Winterschlaf der Tiere, die winterliche Umhüllung der werdenden Knospe, die Einbettung des noch „schlafenden“ Samenkorns in den Mutterschoß der Erde, die Ruhelage des Embryo im Mutterleib Beispiele sind. Und auch im Seelischen gibt es ähnliche Wachstumsgesetze. In unserem Märchen übernimmt diese Funktion mütterlich-umhegender Umhüllung der Dornenhag, ein im Mittelalter auch in der Gartenarchitektur besonders beliebtes Motiv, dessen mythischer Ursprung außer allem Zweifel ist. Es läßt sich nämlich nachweisen, daß die zahlreichen mittelalterlichen „Rosengärten“ ursprünglich sogenannte „Irrgärten“ waren. Das „Irrgartenmotiv“ hat seine Urform wohl von der sogenannten „Trojaburg“. Es sind dies ursprünglich Hügelburgen, zu denen der Zugang spiralförmig angelegt war; im Mittel- und Höhepunkt der Anlage stand meist eine Burg, ein Wasserschloß oder ein tempelartiges Heiligtum. Diese Trojaburgen heißen im Norden auch „Jungfrudans“ (Jungfrautanz), ein Name, der wohl darauf hinweist, daß ursprünglich in Form einer rituellen, feierlichen, reigenartigen Umgangs die „Befreiung“ der in die Burg eingeschlossenen „Jungfrau“ vollzogen wurde. Die Trojaburg ist überdies eine genaue architektonische Entsprechung zu der bekannten Sonnenspirale, die, wie allgemein angenommen wird, den scheinbaren Umlauf der Sonne im Jahreskreis mit den immer kleiner werdenden und nach der Umkehrung wieder sich erweiternden Umlaufbögen darstellt. 5. Teilmotiv: „bis die Zeit erfüllt ist“: die „erfüllte Zeit“ scheint ein unentbehrlicher Bestandteil in der Symbolik des Erlösungsmärchens zu sein. Nicht nur, daß die Redewendung „und als die Zeit erfüllt war“ in diesem Märchen häufig wiederkehrt; diese Wirklichkeit findet auch noch in anderen symbolischen Hinweisen ihren Ausdruck, so vor allem darin, daß eine bestimmte Frist für die Verzauberung gesetzt ist – in unserem Märchen 100 Jahre – oder daß eine Anzahl von Freiern vergebliche Versuche zur Befreiung der Jungfrau gemacht haben, ehe endlich „der Rechte“ erscheint. Fest gelegte Zahlengruppen tauchen in diesem Zusammenhang immer wieder auf. Immer muß eine Zahl voll gemacht, „erfüllt“, d. h. der Ring des Geschehens geschlossen werden, wie denn der noch nicht ganz geschlossene Ring auch tatsächlich im symbolischen Bilde auftaucht: Wenn etwa in manchen Märchen die Köpfe der erfolglosen und darum dem Tode verfallenen Freier rings um das Schloß auf Gartenpfähle aufgespießt werden und nur ein Pfahl zuletzt noch frei ist. Es darf als wissenschaftlich gesichert gelten, daß sich hinter diesen Zahlen eine altarische Kalenderrechnung, ein Hinweis auf das sich zum Ring schließende Jahr verbirgt. Das Motiv der erfüllten Zeit steht übrigens in engster Beziehung zu dem vorhin erwähnten Motiv der Spirale. Beiden Motiven liegt wohl als lebensgesetzlicher Hintergrund das überall im kosmischen wie im biologischen und seelischen Geschehen zutage tretende Gesetz des polaren Rhythmus, der Umkehrung, des Wandels, der Rückläufigkeit zugrunde, das besagt, daß überall im Leben eine Bewegung schrittweise und immer mehr sich steigernd einem Höhepunkt zustrebt, um dann im selben Augenblick in eine Gegenbewegung derselben Intensität umzuschlagen. Beispiele für dieses kosmische Lebensgesetz bietet etwa der Phasenwechsel des Mondes, der Lauf der zu- und abnehmenden Sonne, der Atemrhythmus im biologischen Geschehen, der Rhythmus von Spannung und Entspannung, Arbeit und Ruhe, Aktivität und Passivität, Bedrängtsein und Befreiung im seelischen Geschehen, wozu das bekannte Goethewort herangezogen werden kann: Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: die Luft einholen, sich ihrer entladen; jenes bedrängt, dieses erfrischt, so wunderbar ist das Leben gemischt. Du danke Gott, wenn er dich preßt, und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt! Im mythischen Bilde des Erlösungsmärchens ist diese Lebenswirklichkeit dadurch zum Ausdruck gebracht, daß die Zeit der „Verzauberung“, der „Verhüllung“, des „Schlafbanns“, der mütterlich-umhegenden Abschließung vom äußeren Leben ihre vom Schicksal genau zugemessene Grenze hat, um dann im Augenblick der „Erfüllung“ in die gegenteilige Wirklichkeit umzuschlagen. 6. Teilmotiv: Der „junge, strahlende Held“: im Märchen ist es ein junger Prinz oder Königssohn in prächtigen, oft goldenen, leuchtenden Kleidern, von schönem Antlitz und herrlicher Gestalt, mit wallendem Haar, oft mit schimmerndem Goldhaar, in strahlender Rüstung, mit ungewöhnlicher Körper- und Seelenkraft oder auch mit Weisheit wie mit Mut begabt, der mit „Vollmacht“ (althochdeutsches Wort für Seele: megin = Kraft, Vermögen, Vollmacht, volle körperliche und seelische virtus) Handelnde. In der Heldensage sind dieselben Attribute verwendet, nur noch mehr ins Heldische erhoben. Besonders Siegfrieds strahlende Gestalt ist schon immer als Sinnbild des jungen, sieghaft vorwärtsströmenden, die Kräfte der Beharrung überwindenden, sich erneuernden Lebens, als Sinnbild der lebenzeugenden Kraft des neugeborenen Lichtes angesehen worden. Sein Runensinnbild ist die man-Rune, Symbol der sich jugendlich erneuernden, männlichen Lebens- und Zeugekraft. Dieser jugendliche Lichtheld ist 7. Teilmotiv: „der vom Schicksal Erwählte, an den rechte Ort Geleitete“. Er ist der „rechte“ Freier, der, weil erwählt, zum Befreier der Jungfrau wird, ist der schicksalhaft für die Jungfrau Bestimmte. Dies kommt nicht nur darin zum Ausdruck, daß sein mutiges Herz und sein starker Arm die Hindernisse wie von selbst brechen, daß seiner „Vollmacht“ alle seither verschlossenen Pforten sich willig öffnen, daß er gerade „zur rechten Zeit“ erscheint; er ist überdies noch ein vom Schicksal – wenn auch meist erst nach äußerster Bewährung – gleichsam an den rechten Ort Geleiteter oder Getragener. Oft ist es das „glückhafte“, schicksalträchtige „Schiff“, das den Helden ans rechte Ufer geleitet, öfter aber noch das tragende oder wegweisende Tier, das ihm, wie der Fuchs im „Goldenen Vogel“ (KHM Nr. 57), seinen Rücken bietet und ihn mit Windeseile an den Ort seiner Bestimmung trägt, oder das ihm als Vogel beflügelt vorauseilt und ihm auf diese Weise die Bahn bereitet. Gerade dieses Motiv kann als ein besonders wichtiges Glied in der Kette unserer Beweisführung für die nahe Verwandtschaft zwischen unserem Märchen und der dazugehörigen Heldensage betrachtet werden. In dem altfranzösischen Prosaroman Perceforest, der ein genaues Vorbild des Dornröschenmärchens enthält, „dringt ihr Liebhaber Troylus auf dem Rücken eines Vogels in die verschlossene Burg“ (Bolte-Polivka, I, S. 436), und „im französischen Roman de Floriant et de Florete wird der Held durch einen weißen Hirsch auf den feuerspeienden Berg Mongibel (Aetna) gelockt, wo er die Fee Morgain, König Artus Schwester, auf einem Ruhebett findet. In der Välsunga-Sage c. 24 zeigt Sigurds Falke dem Helden den Weg zu Brynhild“ (Bolte-Polivka I, S.440). Nebenbei bemerkt stellt auch die Tatsache, daß die Fee Morgain die Schwester des Königs Artus ist, die Verbindung zum Dornröschenmärchen her: Artus steht den Chevaliers de la rose vor, und das ganze Rosengartenmotiv des Mittelalters dürfte wohl sehr nahe Beziehungen zum Sagenkreis um Artus gehabt haben. Wenn nun der vom Schicksal getragene Held 8. Teilmotiv: „den Schlafbann bricht“, so tut er auch das kraft seiner ihm vom Schicksal erteilten „Vollmacht“ (megin, virtus). Im Dornröschenmärchen wie in zahlreichen anderen Erlösungsmärchen ist die entzaubernde Tat ein Kuß. Diese romantische Abschwächung eines ursprünglich sicherlich weit blutvolleren Motivs – in einigen Fassungen des Dornröschenmärchens wird die Entzauberung durch Beischlaf vollzogen – läßt übrigens, neben dem Rosenhagmotiv, Rückschlüsse auf das Alter der Dornröschenfassung zu: es dürfte, wie der Rosenhag, auf die Zeit des höfischen Minnedienstes im Sinne der französischen Ritterromane, der Ritter der Rose, zurückgehen, eine Zeit, in der die männliche virtus sich von der schwertgewaltigen Tüchtigkeit in die Richtung auf „Tugend und reine Minne“, auf den werbenden Frauendienst, die courtoisie entwickelte. Viele Erlösermärchen wissen es aber noch anders: da wird die Jungfrau aus der sie umgebenden „Haut“ oder „Rinde“, aus ihrer „tierhaften Verhüllung“ mit Schwert- oder Rutenschlägen herausgeschlagen, ein deutlicher Hinweis auf die Befruchtungssymbolik des Naturmythus, die Lebensrute, die ja heute noch im österlichen Brauchtum mancher Gegenden eine große Rolle spielt. Im Sigrdrifa-Mythus schneidet Sigurd die Brünne der schlafenden Jungfrau durch Schwertschlag auf, wie der männliche Pflug den Schoß der weiblichen Erde befruchtend aufreißt oder wie die wärmende, zeugende Lichtkraft der Sonne den Eispanzer der winterlich ruhenden Erde zerbricht. Mag man nun im Schwertschlag Sigurds mehr ein frühjahrliches Befruchtungs- oder mehr ein frühjahrliches Befreiungssymbol sehen: daß in der frühjahrlich erwachenden, unter den lebenzeugenden Strahlen oder dem erweckenden Kuß der Sonne wiedergeborenen Natur eine handgreifliche Parallele zu dieser Symbolik im Mythos vorliegt, ist offensichtlich. Was endlich die das Erlösungsmärchen und damit auch unser Motiv abschließende Hochzeit betrifft, in der sich der Held mit der Befreiten 9. Teilmotiv: „nach dem Willen des Schicksals vermählt“, so stellt dieses Symbol die Vereinigung der polaren Gegensätze und die völlige Schließung des in der Zeit sich erfüllenden Schicksalsringes, des Kreislaufgeschehens, unter kosmischer Blickrichtung des Jahrlaufkreises in der sommerlichen „Hoch-Zeit“ zu vollendeter Ganzheit dar. Zur Frage der SinnerschließungNachdem durch den Motivvergleich ein Einblick gegeben ist in die streng gesetzmäßige Bildfolge des Mythos, ist zusammenfassend noch einmal zu sagen, was nun eigentlich mit der Bildfolge gemeint seit. Das Dornröschenmärchen ist der Mythos, nur eben in Märchenform, des sich in gesetzmäßiger Entwicklung immer wieder erneuernden, immer von neuem wiedergeborenen Lebens. Es ist Sinnbild des in die polaren Gegensatzpaare Himmel und Erde, sommerliche und winterliche Hälfte auseinanderstrebenden, doch immer wieder neu zur Einheit sich vollendenden Jahreskreises, Sinnbild vor allem der frühjahrlichen Wiedergeburt des Lebens in der Natur. Da die Erde die für uns wichtigste Verkörperung der Natur ist, kann man auch sagen, das Dornröschenmärchen sei der Mythos vom Lebenslauf der Erde. Sollte die innere Berechtigung dieser Sinngebung des Märchens noch in Frage gestellt werden, so möge unvoreingenommen der Wortlaut des dem Dornröschenmärchen so verwandte Sigrdrifa-Mythos der Edda herangezogen werden. Die in winterlichem „Schlummerbann“ liegende, in der „bleichen Not“ der Eisesstarre gebannte, in der Schildburg eingeschlossene, schlafende Weibkraft der Erde findet in Sigurd, dem furchtlosen und schwertgewaltigen Sonnenhelden ihren Erlöser, dem sie sich schicksalsbereit vermählt. Es ist dies die Darstellung genau desselben Vorganges, nur „naturalistischer“, weniger „mythisch“ erzählt. Es ist das ganz unmittelbare Sinnbild frühjahrlichen Geschehens in der Natur! Nach Odins Gesetz soll nur der ihren Zauberschlaf lösen können, der nichts von Furcht weiß. Darum geht der Drachenkampf, der Kampf mit der winterlichen Widermacht, mit dem verschlingenden Todesschlund der Großen Mutter als Bewährungsprobe der Erlösung und Vereinigung mit der Jungfrau voraus. Die Vermählung der beiden ist sommerliche Hoch-Zeit im kosmischen Jahrlaufgeschehen; sie steht im Zeichen der Fülle, der „fruchtschweren Flur“ und der „heilkräftigen Hände“, der „Stärke“ und des „stolzen Ruhms“, der „Freudenrunen“ und „Glücksstäbe“, eben des Heils, das aus der Ganzheit geboren wird aus der ewig sich erneuernden Vereinigung von Himmel und Erde, Tag und Nacht, Sommer und Winter, Mannkraft und Weibkraft in der Welt. Im Heilruf der erwachenden Walküre ist diese Polarittä kosmischen Geschehens gepriesen und religiös ausgesprochen: Heil dir, Tag! Heil euch, Asen! Freilich lebt in den beiden ein Wissen, daß diese Hoch-Zeit sommerlicher Fülle nicht lange dauern wird, „da furchtbare Fehde naht“: so schließt sich in der Aussicht auf neuen Kampf, auf das Todesgeschehen des sinkenden Jahres der Ring der Notwendigkeit. Das ist die Ausdrucksweise und Sprache derer, die den Mythos geschaffen, die Märchen daraus abgeleitet und damit uns die Grundlage für all unsere Erkenntnisse geliefert, ja, viel mehr als wir wahr haben wollen, uns Gegenwärtigen an Erkenntnis vorweggenommen haben. Im Grunde sprechen wir heute dasselbe aus, nur eben mit Worten und Wendungen der uns genehmeren „psychologischen“ Einsicht. Wir sprechen heute von Naturgesetzen, d. h. wir haben eine Reihe von Oberbegriffen geschaffen, unter die wir alles unter sich ähnliche Geschehen einordnen. Wir sprechen z. B. vom Gesetz des Kreislaufs, sprechen von Tageskreisen und Jahreskreisen und meinen damit jenen immer sich erneuernden Wandel zweier im Steigen und Fallen sich ablösenden gegensätzlichen Erscheinungen, die wir Tag und Nacht, Sommer und Winter nennen. Im Grund steht dahinter freilich eine Kraft, nämlich das sich wandelnde Licht, die in größerer oder kleinerer Intensität strahlende Sonne. Haben wir damit aber nicht ebenfalls eine Reihe von Bildern gebraucht, um die Gesetzmäßigkeit dieser mit der Sonnenenergie verbundenen Naturvorgänge auszudrücken! Wir haben das Leben in der Natur beseelt, indem wir von zwei „gegensätzlichen“, also miteinander „im Kampf stehenden Kräften“ sprachen, die „sich ablösen“, die „steigend“ und „fallend“ „sich erneuern“, Bilder, die dem menschlichen Leben entnommen sind. Wir können überhaupt nicht anders als in Bildern und Gleichnissen von der Wirklichkeit des Lebens reden. Ja selbst unsere heutigen Naturgesetze sind im Grunde noch Bild und Gleichnis, wenn auch vielleicht sehr viel abgeblaßtere Bilder der Lebenswirklichkeit als jene Bilder des Mythos, mit denen der naturnahe Mensch die Gesetzmäßigkeit alles Lebens auszudrücken versuchte. Aber auf Schritt und Tritt begegnen wir in unserer Sprache auch heute noch mythologischen Bildern: so, wenn wir z. B. vom Auf- und Untergang der Sonne reden, vom Lauf des Jahres, von der Geburt des Lichts, vom Kampf zwischen Frühjahr und Winter, vom schlafenden Keim, vom Mutterschoß der Erde, vom Wiedererwachen der Lebenskräfte im Frühjahr. Nur denken wir noch kaum daran, daß alle diese Redewendungen aus einer mythischen Schau des Lebens stammen. Darum ist es durchaus nicht unter unserer Würde, die Welt und die Natur dann und wann einmal auch ganz wieder im Spiegel des Märchens zu sehen, und wir unterwerfen uns dabei einer sehr heilsamen Selbstprüfung: ob wir nämlich noch so viel Phantasie besitzen, wie die mythische Schau des Märchens sie voraussetzt. Der Dichter hat sie sich bewahrt, und schönere „Motive“ findet er auch nicht. Er singt immer noch dasselbe, nur in unserer Sprache. So Goethe im Osterspaziergang: Vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden, belebenden Blick, im Tale grünet Hoffnungsglück, der alte Winter in seiner Schwäche zog sich in rauhe Berge zurück … Oder eine jetzt lebende Dichterin, Auguste Supper: Es lockt und wirbt der Sonne warmer Kuß. Der Dichter gebraucht noch dieselbe Bildsprache wie das uns allen in vielfachen Formen bekannte, uralte Jahrlaufbrauchtum, in dem der Winter ausgetrieben oder verbrannt wird, in dem ein Kampf ausgetragen wird, bei dem die sieghaft triumphierenden jungen Kräfte des Frühjahrs und des Sommers schließlich obsiegen. Dem ursprünglichen, naturnahen Menschen der frühen Zeit ist die Vorstellung der Entwicklung des langsamen, organischen Übergangs von einem Seinszustand in einen andern scheinbar ganz fremd. Er will in allem plastisch und monumental sein. Darum ist ihm jede biologische Veränderung dieser Art entweder eben ein Kampf zweier miteinander ringenden feindlichen Gewalten, bei dem schließlich die eine besiegt abzieht oder ausgetrieben wird oder sterben muß, während die andere an ihre Stelle tritt, oder aber eine plötzliche Verwandlung einer und derselben Naturkraft, also z. B. des Lichtes oder der Sonne. Zur bildhaft-anschaulichen Darstellung dieser plötzlichen Verwandlung einer Naturkraft oder eines Seinszustandes verwendet der Mythos sowohl im Brauchtum wie in seinen epischen Gestaltungen, in Märchen, Sage, Volkslied, eine Reihe von „Motiven“, von denen hier die wichtigsten erklärt seien.
Torben Rahn |