Es liegt nicht im Sinne dieser Arbeit, die „Bekehrung“ einzelner Germanen, die als Soldaten, als Gefangene oder Geiseln im weiten Römerreich zerstreut waren, zu beleuchten; es besteht auch nicht die Absicht, die christliche Mission unter abgesprengten und politisch unselbständigen germanischen Volksteilen zu untersuchen.
Die Römische Welt
Hier liegen die Gründe für den Erfolg dieser „Bekehrung“ zu offensichtlich. Sie sind allgemein menschlich und bestehen einerseits in der Neigung, sich der Umgebung anzupassen, besonders dann, wenn diese an Bildung, Wissen und Gebaren höher zu stehen scheint, andererseits in dem geringen Widerstand, den vom Volkstum und Heimatboden losgelöste Menschen dieser Umgebung zu bieten vermögen. Dazu kam jene germanische Untugend, die die Lehre einer zweitausendjährigen Geschichte noch nicht hat ausrotten können: die eigene Art, Sitten und Brauchtum minder zu achten und blind zu sein gegen die Gefahr der Aufnahme fremden Wesens.
So war es im letzten Grunde die geistige und territoriale Trennung vom großen germanischen Lebenskreis, die der Verrömerung und damit der Annahme eines Fremdglaubens den Boden bereitete. Der Ubier, der Tunika und Toga trug, das römische Hemdgewand, „in der man das Schwert nicht ziehen konnte“, wie die Goten spöttisch sagten, war germanischem Wesen ebenso verloren wie der germanische Legionär, der inmitten römischer Sklaven in den Katakomben vor dem christlichen Priester kniete. Hier war die „Bekehrung“ das letzte Siegel, der entscheidende Abschluß einer seelischen Lösung, die lange schon vorausgegangen war. Die Folge dieser Trennung vom eigenen Glauben war, daß die meisten Germanen im Völkergemisch des Weltreichs untergingen. Es ist unzweifelhaft, daß die Verluste, die das Germanentum dadurch erlitten hat, Hunderttausende von Volksgliedern betrug. Nicht mit diesen Fragen soll sich die Arbeit beschäftigen, sondern mit der „Bekehrung“ der großen Völkerwellen, die im 3. und 4. Jahrhundert aus dem germanischen Kernraum des Nordens gegen Süden und Osten hervorbrachen und dort mit der Kultur Roms und dem Christentum zusammenstießen. Hier war der einzelne nicht mehr schutzlos fremden Einflüssen preisgegeben, hier stand er auf dem Nährboden seines Volkstums. Es ist nach den Gründen zu suchen, weshalb auch diese kraftvollen Völker dem Fremdglauben erlagen, damit, nach großen geschichtlichen Leistungen, wie jene Einzelnen vom Schicksal zerrieben wurden und, eine ungeheure Tragik, spurlos verschwanden. Das Christentum trat den Germanen als ein Teil der römischen Kultur entgegen. Das war eine Mischkultur aus aller Herren Länder. Mit den Resten altrömischen Pflichtgefühls und altrömischer Staatsauffassung im Beamtentum paarte sich die orientalisch-despotische Kaiseridee, die die Proskinesis (1) verlangte; zu dem ausgeklügelten Dogmengebäude griechischer Philosophie gesellten sich mystisch schwärmerische Kulte aus Ägypten und Persien. Noch leuchteten die herrlichen Bauten des Mnesikles auf dem Akropolisfelsen unter dem blauen Himmel Griechenlands, aber unter den Menschenherzen zu seinen Füßen machten sich Knechtsgedanken breit, die Schönheit eitlen Tand, Heldentum Sünde, und Mannesstolz Hoffart nannten. In dieses Chaos hatte sich das aus Vorderasien kommende Christentum eingedrängt, hatte neue Lehren der jüdischen Seele, aus der es entstammte, mitgebracht, diese aber auf seinem langen Missionswege mit Ideen seiner hellenistisch-römischen Umgebung innig verschmolzen. Im Anfang gestützt auf den großstädtischen Pöbel und damit die politische und geistige Autorität revolutionär unterwühlend, hatte es sich nach seinem Siege geschickt umgestellt, den Staat als willkommenen Helfer für seine Pläne benutzt und als Staatsreligion in jener Zeit, in der die großen „Bekehrungen“ der Germanenvölker begannen, den reinen Herrschaftsgedanken in immer schärferer Form vertreten. Dieser Machstandpunkt verlangte im Gegensatz zu der mehr als ärmlichen Wiege dieser Religion auch äußerlich Glanz und Pomp, eine aus den Massen herausgehobene Hierarchie, verlangte Kirchen, die mit den Tempeln der Antike wetteifern konnten, ja sie übertreffen sollten, endlich ein Auftreten der höheren Priester, das seinen Eindruck auf die gläubigen Massen nicht verfehlte. So bot diese Kultur den Menschen, die zum erstenmal mit ihr in Berührung kamen, ein beinahe einheitliches Bild. Dieses Bild war Macht und Glanz! Die stolzen Bauten der oströmischen Hauptstadt Byzanz mit ihren Tempeln und Kirchen, dem weißleuchtenden Marmor der Standbilder und Säulenhallen des Forums, eine in Reih und Glied ausgerichtete Legion, 8000 blitzende Helme in der Sonne, übten auf den schauenden Germanen dieselbe Wirkung aus wie der ungeheure Pomp, den die christliche Kirche in kluger Absicht bei der Taufe des Frankenkönigs Chlodowech verwandte. In Wirklichkeit hatte diese Kultur ihre Tiefe, die Einheit ihres Wesens verloren. Sie war Schale, aber sie leuchtete. Die Männer jener Legion waren nicht mehr die römische Jugend zur Zeit Catos, sondern zusammengewürfelt aus allen Provinzen des Mittelmeeres, Mauren aus Nordafrika, semitische Syrer und hispanische Kelten. Aber mit dem stolzen Adler, der ihr vorangetragen wurde, schritt die Erinnerung an tausend Siege in allen Teilen der Welt. Die spätrömischen Dichter wie Claudian waren an Gedankentiefe nur lächerliche Nachahmer der klassischen Zeit, und doch fehlte auch ihnen nicht die stolze Gebärde und der tönende Schwung der Sprache. Es wird von Geschichtsbetrachtern oft der Fehler begangen, die römische Kultur jener Zeit als durch und durch verfault zu betrachten. Das Faule lag nicht im Einzelnen, sondern im Zusammenklingen von Erhabenem und Knechtischem, von Askese und wildem Sinnengenuß, von der Freiheit des Idealismus und engster geistiger Despotie. Die Kultur entsprach damit dem Blutsgemisch jenes Völkerbreies. Wer empfindet nicht die seltsamen Gegensätze jener Zeit? Dem Schakal auf dem Kaiserthron, Konstantin, der fast alle seine Verwandten heimtückisch ermorden ließ und dennoch von der Kirche den Beinamen „der Große“ erhielt, folgte bald darauf der edle und kriegstapfere Julian, der „letze Römer“.Das Wesen dieser seltsamen Kultur haben weder Römer noch Germanen in jener Zeit empfunden. Rom glaubte an seine Macht und kulturelle Überlegenheit bis zum Untergang. „Barbaren“ nannte man auch dann noch die blonden Eroberer, als sie Kommandeure der Legionen waren und als Herren Italiens die altrömischen Kunstwerke vor der Zerstörung durch die Römer schützten. Prachtvolle Bauten entstanden in den Städten, als die Goten die Grenzwälle an der Donau durchbrochen hatten, und Claudian begeisterte seine Landsleute mit überschwänglichen Schilderungen der Siege seines Kaisers, die dieser nie erfochten hatte. Aber auch die Germanen erkannten Rom nicht in seinem Wesen. Sie sahen nur die leuchtende Schale, sahen Marmor und Gold und ließen sich die Sinne umnebeln von Weihrauch und Psalmengesang. Dabei vergaßen sie ihr Heiligstes, ihre Eigenart. Es ist erschütternd zu lesen, wie der große Theoderich seine Goten ermahnt, sich das feinere römische Wesen und die römischen Wissenschaften anzueignen. Dieser kluge Fürst eines der herrlichsten Völker, die diese Erde betreten haben, glaubte mit seinem Volk eine Brücke zwischen römischem und germanischem Wesen schlagen zu können, ein Ziel, das zum eignen Untergang führen mußte.
Altgermanische Kultur
Die gotischen Völker, die im 3. und 4. Jahrhundert an den Ufern des Schwarzen Meeres und im nördlichen Balkan mit der römischen Welt in Berührung kamen, werden heute noch von christlichen Theologen für kulturlose Barbaren gehalten. Was sie später an technischen Leistungen vollbrachten: Schrift und Baukunst, Verwaltung und staatliche Organisation, sei von Römern übernommen; das innere sittliche Werden, also die eigentliche Kultur, sei dem Christentum allein zu danken. Ein katholischer Kirchenfürst, der vielen Deutschen heute noch als Autorität gilt, geht noch einen Schritt weiter: er will den vorchristlichen Germanen auch den Ausgangspunkt aller Kultur, den Ackerbau, aberkennen. Erst der heilige Benedikt und seine Jünger hätten sie darin unterwiesen. Hier hat die vorgefaßte Meinung, die im Christentum das schlechthin Schöpferische, Einzigartige und Unübertreffliche sieht, den Blick getrübt und die Erkennung einer schlichten geschichtlichen Wahrheit unmöglich gemacht. Ist es denn denkbar, daß schon im 3. Jahrhundert ein großer Teil des römischen Weltreiches mit Hunderten von ummauerten Städten, mit den bestbewaffneten Soldaten der Zeit, mit einer Tradition der Kriegführung, wie sie beispiellos in der Geschichte ist, von einer Horde von Wilden, die wahrscheinlich nur notdürftig in Bärenfelle gekleidet waren, einfach über den Haufen gerannt wurde? In jener Zeit wimmelte das Schwarze Meer von gotischen Segelschiffen. Die hohe Kunst des Schiffbaues und der Nautik war ja jahrhundertelang schon in den nordischen Meeren gepflegt worden. Sollte das, was damals die christlichen Römer erstaunen machte, nicht auch jene deutschen Theologen nachdenklich machen? Die gotische Sprache in der Bibelübersetzung des Ulfilas zeigt eine Gewandtheit, einen Wortreichtum und eine Bilderfülle, die nur durch uralten Gebrauch in Dichtkunst und hoher Rede zu erklären ist. Zwar fehlen gotische Worte für Teufel, Schuldurkunde, Kirche als Organisation, Kriegssold und Priester; aber wir werden dieses Fehlen für die Höhe der gotischen Kultur nicht allzusehr bewerten. Wenn endlich Kirchenmänner ein altgermanisches Bauerntum bestreiten, so ist man im Zweifel, ob man sich mehr über die Unwissenschaftlichkeit einer solchen Behauptung oder über das Vertrauen auf die Leichtgläubigkeit der Hörer wundern soll. Lehrt doch die Sprachforschung schon seit Grimm, daß zu der ältesten gemeinsamen Schicht der indogermanischen Sprachen Worte wie „Pflug“, „Joch“ und die Bezeichnung einer Anzahl von Getreidearten gehören. Daß der Ackerbau die Hauptbeschäftigung der gotischen Männer war, beweist uns die gotische Sprache lange vor der Geburt des heiligen Benedikt. Eine Fülle von bäuerlichen Bezeichnungen tritt uns hier entgegen. Wir erfahren aber noch mehr: manche aus dem Bauernleben stammende Worte haben im Sprachgebrauch eine allgemeine Bedeutung erhalten. So heißt vaurstwa zugleich der „Feldarbeiter“ und der „Arbeiter“ überhaupt, und bauan bedeutet „das Feld bestellen“ und zugleich „wohnen“.

Die Germanen der Völkerwanderung waren wandernde Bauernvölker im wahrsten Sinne. Immer wieder klingt der Schrei nach Land zum Siedeln durch die Verhandlungen mit den römischen Kaisern. Neu erworbenes Land wird sofort unter den Pflug genommen. So blühte das durch römische Mißwirtschaft verwüstete Bauernland Italiens unter der Hand ostgotischer Bauern wieder auf. Die Kultur jener Völker war deshalb eine echte Bauernkultur, aber die Kultur nordischer Bauern. Neben der Pflugschar lag das Schwert. Es genügte ihnen nicht, in stumpfer Beharrlichkeit dem kärglichen Boden jahraus, jahrein die bescheidene Ernte abzuringen. „Der Germane war immer aufbruchbereit“ (Neckel). Sein Denken war frei und in die Weite greifend. Wer gestern Bauer war, ist heute Seemann und wird morgen Krieger sein. Diese Vielseitigkeit nordischen Wesens können die nicht begreifen, die nicht das Blut jener Goten mehr in sich fühlen. Dabei war der germanische Bauer eine in sich ruhende Einheit. Sein Gottglaube und sein Handeln, seine Weltanschauung und Sitten waren eng mit seinem Wesen verbunden. Wie der ausgeprägte Ehrbegriff die Beziehungen der Sippen und ihrer Glieder untereinander regelte, so war die Ehre auch Richtschnur des Verhaltens den Göttern gegenüber. Ein knechtisches Sichniederwerfen, eine bedingungslose Unterordnung unter die Gottheit war dem Germanen undenkbar. Sein naturwaches Auge hatte auf Seefahrt und beim Ackerbau die kosmischen Gesetze zu durchdringen versucht, lange, ehe die christliche Kirche ein Forschen auf diesem Gebiete überhaupt zuließ. In der Bearbeitung mancher Metalle waren die Germanen den südlichen Völkern überlegen. Kunstgegenstände der germanischen Bronze- oder frühen Eisenzeit konnten an Schönheit und künstlerischem Geschmack damals nicht übertroffen werden. Ein einfacher Gebrauchsgegenstand der Germanen, die Kleiderspange, drang schon um 1800 vor Beginn unserer Zeitrechnung als nordische Urfibel zu den Völkern des Südens. Zwei so verschiedene Kulturen, wie die altgermanische und römische, in ihrem Wert und ihrer Höhe aneinander messen zu wollen, ist ein Versuch, der scheitern muß. Wir können nur sagen, diese Kultur ist anders als jene, und wir können uns bemühen, diese Andersartigkeit zu beschreiben. Es hat zu großen Irrtümern geführt, daß unsere römisch geschulten Humanisten in den germanischen Wäldern nach steinernen Baudenkmälern suchten, und, als sie nichts fanden, ihren Ahnen die Kunst des Bauens abstritten. Wir sehen diese Tatsachen heute mit anderen Augen an. Der Baustoff des Nordens war das Holz, das vergänglich ist, wenn Steine bleiben. Einzelne Funde aber und Schilderungen der Sagas von stolzen Bauernhäusern und Fürstenhallen, die mit bemalten Holzreliefs aus der Göttersage geschmückt waren, weisen auf hohe Fähigkeiten nordischer Baumeister und Künstler hin. Oder ist deshalb ein Volk an Gesittung tieferstehend, weil sein Recht „ihm eingeboren ist“, es deshalb keines Gesetzbuches bedarf, während andere Völker ihre Gesetze auf Stein und Pergament geschrieben haben? Die Kultur der germanischen Bauernvölker entsprang aus tiefstem germanischen Wesen, darum war sie eine hohe, für sie hochstehend. Sie war jung, nicht an Jahren – an Alter stand sie anderen gleich -, aber an Frische, Kraft und Entwicklungsmöglichkeit. Auch hierin entsprach sie dem weitschauenden nordischen Wesen. Die Kultur des Römerreiches in jenen Jahrhunderten entsprang dem Gemisch der Völker, die die Grenzen des Imperiums bewohnten. Ihr entsprach als Teil des Ganzen die synkretistische Religion (Harnack), die seit Konstantin „dem Großen“ zur einzig herrschenden geworden war. Sie bot jedem Volk im Reiche und jedem Stand das, was er suchte: den Massen der Sklaven wie dem machtlüsternen Adel, dem fanatisch eifernden Orientalen, dem dogmatisierenden Griechen wie dem weltentsagenden, mystischen Kelten. So mochte auch diese Kultur mit ihrer Religion in mancher Hinsicht den Millionen des Imperiums entsprechen. Nie und nimmer aber den Germanen! An dem Tage, an dem sie mit dem Überschreiten der römischen Grenze sich römischer Weltanschauung und römischen Sitten öffneten, wenn es auch nur in einem Teilbezirk ihrer Seele war, war ihre Einheit zerrissen. Der germanischen Eiche wurde – ein Bild, das christlichen Priestern so geläufig ist – die Krone abgeschlagen und ein neues Reis aus fremdem Stamm aufgepfropft. Was Wunder, daß der Baum erkrankte. Die Geschichte der Germanenvölker: Goten, Vandalen, Langobarden und Franken zeigt uns die erschütternde Tragik dieser Erkenntnis.
Anfänge der Christianisierung
Unter Kaiser Caracalla im Jahre 215 wurden die Grenzen des römischen Weltreiches zum ersten Male von gotischen Völkern erschüttert. Nach langer Wanderung, von der Mündung der Weichsel aus an den großen Strömen entlang nach Süden ziehend, hatten sie das Schwarze Meer erreicht. Schon ihre ersten Vorstöße auf römisches Gebiet müssen die Verteidigung überrannt haben, denn wir hören schon wenige Jahre später, daß sie in den weiten Gebieten Südrußlands siedelten, und daß der Kaiser sich gezwungen sah, Jahrgelder an sie zu zahlen. In den folgenden Jahrzehnten wurden die Legionen unter ununterbrochenen Kämpfen aus Bessarabien und Rumänien gegen die untere Donau zurückgedrängt, bis der sagenhafte König Ostrogota um das Jahr 250 mit gotischen Scharen auch diese überschritt und damit in altrömisches Kulturland einbrach. Der Kaiser Decius selbst mit seinen besten Legionen trat ihm entgegen. Er fiel im Kampfe, und sein Heer wurde völlig geschlagen. Vergeblich versuchte sein Nachfolger, durch Geldsendungen Ruhe und Frieden zu erkaufen, aber die gewaltig wachsende Volkszahl dieser jugendfrischen Völker schäumte immer wieder über die Grenzen. Zug auf Zug stürmte gegen die beiden Provinzen südlich der Donau, Mösien und Trakien. Bald wurden die südlichen Küsten des Schwarzen Meeres von gotischen Seglern heimgesucht. Wir lesen mit Erstaunen bei den römischen Schriftstellern, daß die Goten im Jahre 269 eine Riesenflotte von über 1000 Segelschiffen im Dnjestr zum Kampf gegen Byzanz rüsteten, in verwegener Fahrt den Bosporus und das Ägäische Meer durchsegelten und die Inseln Kreta und Rhodos plünderten. Es handelte sich bei diesen kühnen Fahrten nicht immer nur um Raub und Ruhm, um verwegene Abenteuer der waffenfähigen Jugend, sondern oft auch um Züge des ganzen Volkes. Auf der im Jahre 269 bei Saloniki gelandeten gotischen Flotte befanden sich Tausende von Frauen und Kindern. Das Ziel war auch hier: die Gewinnung neuen Landes. Um die Mitte des 3. Jahrhunderts war das nördlich der Donau gelegene Dakien sicherer Besitz der Ost- und Westgoten, die teils in lockerem Bündnisverhältnis miteinander standen, teils unter ostgotischer Herrschaft zu einem Reich verschmolzen waren. In hundertjähriger Entwicklung wurden nun die Ebenen Ungarns und Rumäniens besiedelt, die Vandalen aus der Theißniederung verdrängt und, da die Römer jetzt im Süden erfolgreich Widerstand leisteten, Raum nach Osten und Norden gewonnen. Um 350 erstreckte sich das Reich des großen Ostgotenkönigs Ermanarich vom Schwarzen Meer bis zu den Esten am Gestade der Ostsee. Westlich von den Ostgoten wohnte unter eigenen Gaukönigen das befreundete Volk der Westgoten. Aus dieser Zeit stammen nun die ersten geschichtlichen Nachrichten über eine Berührung der Goten mit dem Christentum. Manche Kirchenhistoriker (Huber) sind der Meinung, daß das Christentum von der Apostelstadt Saloniki aus schon im ersten Jahrhundert nach Sardika in Bulgarien und Sirmium, der westillyrischen Hauptstadt an der Save, gedrungen war. In diesen beiden bedeutenden Militär- und Verwaltungsstädten des römischen Reiches entwickelten sich während des 2. Jahrhunderts in der einheimischen Mischbevölkerung straff organisierte christliche Zentralen unter Leitung von Bischöfen, die ihre missionierende Tätigkeit bald auch nach den Städten jenseits der Donau erstreckten. Als die Goten in die römische Provinz Dakien einrückten, fanden sie in den eroberten Städten zahlreiche solcher Christengemeinden vor. Man ließ sie ruhig gewähren; denn Duldsamkeit in religiösen Dingen war den heidnischen Germanen, und zwar allen Stämmen im Norden wie im Süden, etwas Selbstverständliches. Selbst christliche Geschichtsschreiber der alten wie der neuen Zeit geben diese Tatsache, oft mit leisem Erstaunen, zu. Es erschien den Goten wie den Isländern der Sagazeit als ein Widersinn, Menschen lediglich ihres anderen religiösen Bekenntnisses wegen zu verfolgen. Erst das Christentum lehrte sie die Idee des Religionskrieges, eine Idee, die wohl in der orientalischen Seele mit ihrem düsteren Glaubensfanatismus, niemals in der germanischen geboren werden konnte. Das lag nicht an der religiösen Kälte der Germanen oder an der Minderbewertung heiliger Dinge gegenüber den „weltlichen“ Gütern wie Staat, Volk und Sippe, wie es manche zu erklären versuchten, sondern an der Achtung vor der Überzeugung des anderen, im nordischen Abstandsgefühl, das sich scheute, im anderen das zu berühren, was man im eigenen Herzen unberührt wissen wollte. Höchst bedenklich aber war es, daß die gotische Regierung die christliche Organisation als solche in ihrem Staate gewähren ließ. Diese unterstand auch nach der Besitzergreifung des Landes durch die Goten der Metropolitangewalt der römischen Kirche. (2) Damit traten gotische Untertanen in enge, kaum überwachbare Beziehungen zu einem feindlichen Land. Auf dem Konzil zu Nikäa 325, das unter der Leitung des Todfeindes der Goten, des Kaisers Konstantin, stand, unterzeichnete die Entschließung der Mehrheit auch ein Theophilus als „Bischof von Gotien“ mit. Es ist möglich, daß zu diesen nach Blut und Gesinnung durchaus römischen Christengemeinden auf gotischem Boden schon einzelne übergetretene Goten gehörten. So berichten die Kirchenväter Athanasius von Alexandrien und Cyrillus von Jerusalem schon von christlichen Goten aus jener Zeit. (3) Die eigentliche „Bekehrungsarbeit“ aber erfolgte erst zwei Jahrzehnte später durch den „Gotenapostel“ Ulfilas. Ulfilas, einer der bedeutendsten Geister jener Zeit, erfreut sich bei fast allen Geschichtsschreibern der höchsten Bewunderung und Verehrung, soweit ihn nicht einzelne christkatholische Eiferer als arianischen Ketzer mit Verdammung und Hölle bedrohen. Die unschätzbare Tat der Schaffung eines großen gotischen Schriftwerkes, das uns durch einen Zufall erhalten wurde, und die sprachlich schöpferische Leistung dieser Tat überstrahlt Leben und Wirken dieses Mannes so übermächtig, daß eine sachliche Kritik manchem als gehässige Herabsetzung erscheinen wird. Wer aber vom nordisch-germanischen Blickfeld aus die Geschichte unseres Volkes betrachtet, hat frei und streng festzustellen, was eine geschichtliche Gestalt für dieses Volk tat, und ob ihr Wirken im Sinne der Erhaltung und Mehrung von Volkstum und Staat lag, oder ob letzten Endes durch sie Wesensheiligtümer und Kraftquellen der Volksseele zerstört wurden. Es fallen Schatten auf diesen Gotenapostel, die keine noch so glühende Schilderung seiner Bibelübersetzung verdecken kann. Ulfilas war das Werkzeug kluger römischer Politk zur Sprengung und Vernichtung der gotischen Macht. Edmund Weber hat in seiner Schrift „Das erste germanische Christentum“ in überzeugender Weise die Vorgeschichte und Hintergründe der Missionstätigkeit des Ulfilas beleuchtet. Ulfilas war, wie auch sein Nachfolger im Bischofsamt, Selena, kein reiner Gote, sondern ein Mischling. Der römische Schriftsteller Photius überliefert uns, daß seine Vorfahren mütterlicherseits im Jahre 267 bei einem Kriegszug der Goten nach Kleinasien aus dem Dorfe Sadagolthina bei der Stadt Parnassus in Kappadokien als Gefangene mitgeschleppt wurden, diese Gefangenen aber Christen gewesen seien. (4) So ist anzunehmen, daß Ulfilas einen heidnischen, gotischen Vater, wahrscheinlich aus vornehmem Geschlecht, und eine christliche, vorderasiatische Mutter hatte. Er wurde nach dem Glauben der Mutter christlich erzogen, und zwar nach dem um 310 ausschließlich herrschenden katholischen Bekenntnis. Auf der Krimhalbinsel, also auf ostgotischem Boden, von seinem Lehrer Theophilus, dem „Bischof der Goten“, christlich geschult, sollte er Priester werden.

Im Jahre 335 schickte ihn sein König wegen seiner Kenntnisse der griechischen und lateinischen Sprache als Dolmetscher mit einer Gesandtschaft an den Hof des Kaisers Konstantin. Hier kam die Wendung. Wir finden den jungen Lektor kurze Zeit später nicht mehr im Dienste seines Volkes, das ihn als seinen Vertreter zum Feinde gesandt hatte, sondern als Günstling des römischen Kaisers und Vertrauten des Bischofs Eusebius von Nikomedien in Kleinasien. Sozomenos schreibt in seiner Hist. eccl. II, 41, daß er „durch listige Überredung“ verleitet worden sei, zunächst einmal das arianische Bekenntnis, also die zur Zeit herrschende Staatsreligion, anzunehmen. So blieb Ulfilas am Hofe zu Konstantinopel, wo er vom Bischof im kirchlich-christlichen Geiste weitergeschult wurde. Ist es verwunderlich, daß er sich dem germanischen Wesen immer mehr entfremdete, daß er sich in die Idee hineinlebte, berufen zu sein, den Goten die „Heilsbotschaft“ zu bringen? Die klugen Rechner am Kaiserhof, Konstantin und sein Patriarch Eusebius, wußten, welche ungeahnten Aussichten sich für Imperium und Kirche boten, wenn es gelang, die kriegsmächtigen Gotenvölker aus ihrem arteigenen Glauben zu entwurzeln, ihnen eine Religion aufzudrängen, die Kriegsheldentum ablehnte, (5) Leiden und Dulden aber als Gott wohlgefällig hinstellte und als höchstes Gebot die Feindesliebe pries. Zum mindesten bestand die Ansicht, wenn die Abkehr wenigstens eines Teiles der Goten zum Christenum gelang, diesen Teil seinem Volk zu entfremden, ihn durch das mit Rom gemeinsame Bekenntnis der Verrömerung anheimfallen zu lassen und Spaltung und Haß mitten in das germanische Volk zu treiben. Es tut diesen Gedankengängen keinen Abbruch, daß sie von den alten Schriftstellern und Kirchenschreibern nicht überliefert sind. Der Kaiser und sein christlicher Patriarch haben keine Bekenntnisse ihrer geheimsten Pläne hinterlassen. Daß solche Gedanken aber in den Jahrhunderten der Kämpfe zwischen Germanen und Römern den römischen Christen und der Kirche nicht fern lagen, ist an zahlreichen Stellen ausgesprochen. (6) Seit Tacitus seine „Germania“ geschrieben hatte, fühlte jeder Römer irgendwo in einem Winkel seines Herzens die aufsteigende Überlegenheit der germanischen Welt. Neben den schwülstigen Tiraden über die Höhe der römischen Kultur gegenüber der der „Barbaren“ werden immer häufiger tief pessimistische Stimmen laut. „Wir Römer sind nur noch die Weiber, die Germanen die Männer im Reich“, so hört man einen Schriftsteller klagen. Allerdings mit bettelnden Mönchen und Wanderpriestern konnte man die Größe der Zeit nicht mehr bestehen. Daß aber das unaufhaltsame Vordringen der germanischen Kraft nicht nur an der Zahl, dem unerschöpflichen Menschenreichtum dieser Völker, auch nicht an der „Gewalt der Leiber“ der germanischen Bauern lag, sondern tiefere Ursachen haben mußte, ahnten die Südländer wohl dunkel. Die gesunde „Diesseitsreligion“ der heidnischen Goten, die Ehre und Heldentum als Pole ihres Wesens hatte, befähigte das Volk, das sie lebte, zu größeren Taten als die Religion der Liebe und des Leidens. Das Christentum jener Zeit hatte das Minderwertigkeitsgefühl seiner proletarischen Entstehung und Verbreitung noch nicht ganz abgestreift. Das empfanden denkende Christen. Deshalb war es, wenn Germanen sich taufen ließen, nicht allein die Freude darüber, daß wieder eine Anzahl Seelen vom Verderben gerettet waren, die christliche Römer zu Hymnen begeisterte, sondern auch das siegreiche Bewußtsein, Kraftvolles erweicht und Stolzes erniedrigt zu haben. Menschen, die in Sündenschuld und Staub sich winden, fühlen sich beleidigt, wenn andere neben ihnen aufrecht stehen. Begeistert schrieb der heilige Hieronymus an zwei gotische Mönche, die ihn wegen einer hebräischen Bibelstelle um Rat fragten: „Wer möchte es glauben, daß die barbarische Sprache der Goten die hebräische Wahrheit sucht? … Die im Halten des Schwertgriffes schwielig gewordenen Hände und die zur Handhabung der Pfeile geschickten Finger langen weich nach Griffel und Feder, und die kriegerischen Herzen wenden sich zur christlichen Sanftmut.“ Johannes Chrysostomus, nach dem Tode des Kaisers Valenz Patriarch von Konstantinopel, legte in seinem Collegium goticum, in dem er gotische Söhne für die Mission unter ihren Volksgenossen schulte, das Hauptgewicht auf die Beseitigung heldisch-kriegerischen Sinnes. In „unerreichbarer Beredsamkeit“ (Huber) (7) legte er den jüdischen Propheten Jesaias (65, 25) vor den gotischen Schülern aus: „Der Wolf und das Lamm sollen miteinander weiden, der Löwe soll mit dem Ochsen Spreu fressen, Staub soll der Schlange Speise sein; sie werden weder Schaden noch Verderben bringen auf meinem heiligen Berge, spricht der Herr!“ Wir glauben dem heiligen Manne gern, daß ein Löwe, der Spreu frißt, keinen „Schaden“ mehr tut, und daß gotische Krieger, die um Sündenvergebung flehend vor dem Priester knien, Rom und seiner Staatskirche nicht mehr „verderblich“ waren. Noch deutlicher aber wird der heilige Ambrosius von Mailand, der, wie uns sein Biograph Paulinus mitteilt, an die Markomannenkönigin Fritigild, die Christin geworden war, ein „herrliches Sendschreiben in Form eines Katechismus“ schickte, „in dem er sie auch ermahnt, daß sie ihren Mann bewege, mit den Römern Frieden zu halten. Als sie dieses Sendschreiben erhalten hatte, bewog sie ihren Mann (wohl zur Annahme des Christentums. L.), und er ergab sich samt seinem Volke den Römern.“ Zweifellos mußte sich der ganze Stamm auf Befehl des überredeten Königs taufen lassen. Die Markomannen kämpften damals, um 395, einen Kampf auf Leben und Tod mit Rom. Die „Bekehrung“ einer – allerdings einflußreichen – Person, hatte bewirkt, ein germanisches Volk um seine Freiheit zu bringen. Auch wenn die Erzählung Legende eines überschwänglichen christlichen Geschichtsschreibers sein sollte, so zeigt sie doch den Geist der Kirche und der mit ihr verbundenen politischen römischen Macht. Wir trauen einem Konstantin, der gestern fast alle seine Verwandten heimtückisch ermorden ließ, heute aber eifrig darüber wachte, daß seine Soldaten das Monogramm Christi auf den Schilden trugen, keine tiefen religiösen Erwägungen zu. Seine Pläne waren kalt und klar. Trotz seiner Siege hämmerten die Gotenstämme im Norden immer von neuem wieder gegen die schon zurückverlegten Grenzen des Reiches. Alle Mittel mußten dem Kaiser dienen, die Gefahr zu bannen. Die mächtige Kirche, die 313 die Gleichberechtigung, in Wirklichkeit aber schon sehr bald darauf die volle Herrschaft bekommen hatte, ging jetzt mit ihm Hand in Hand. Der Plan gelang! Das Werkzeug, das ausersehen war, aus „Löwen Lämmer zu machen“, erfüllte die ihm gestellte Aufgabe.
Ulfilas Wirken
Es ist nicht anzunehmen, daß Ulfilas von den geheimen Plänen seiner Lehrmeister wußte, wenn er auch durch mütterliches Blut und christliche Erziehung inmitten eines noch zum größten Teile heidnischen Volkes diesem und seiner germanisch-heidnischen Art entfremdet war. Wie es christlichen Fanatikern zu allen Zeiten erging, standen im Mittelpunkte seines Wesens nicht mehr Volk, Sippe und Heimat, sondern ein Glauben, der seinem tiefsten Wesen nach über die „engeren Lebenskreise“ Volk und Familie hinausging, diese als „irdisch“, „weltlich“, daher letzten Endes als sündhaft betrachtete, d. h. durchaus übervölkisch war. Das Wort „man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“ erklang schon damals, wenn das Christentum mit den Pflichten gegen Volk und Vaterland in Widerspruch geriet. Höher als seine Blutbindung an das Gotenvolk, die unbedingt Kampf gegen das Imperium verlangte, erschien Ulfilas die Aufgabe, seinen Volksgenossen das „Heil“ zu bringen. Daß die Goten dann, mit Rom im gleichen überstaatlichen Glauben verbunden, der offen die Einheit der gläubigen Herde verlangte, sich diesem Rom im Anfang innerlich, später auch politisch näherten, dünkte ihm unerheblich gegenüber dem Gewinn der Christianisierung. Ulfilas sah auch dann noch nicht das Unheil seiner Tat, als ihn der einmal eingeschlagene Weg zur Zerreißung seines Volkes und zum offenen Landesverrat führte. Mit dreißig Jahren wurde Ulfilas vom römischen Patriarchen Eusebius zum Wanderbischof geweiht und beauftragt, den Westgoten das Christentum zu bringen. Damit begann eine Entwicklung, die den Staat der Westgoten in die schwersten inneren Wirren stürzte, ja ihn fast zum Untergang brachte. Die Saat des christlichen römischen Kaisers und seines Oberpriesters ging auf. Die Kernzelle des germanischen Volkskörpers war die Sippe. Das Heer trat nach Sippen geordnet zur Schlacht an, die Stämme siedelten, wenn sie Neuland unter den Pflug nahmen und die Lose verteilten, nach Sippen. Die Blutsverbundenheit der Sippe war dem Einzelnen die innere Heimat und bot ihm Frieden; das geschah in erhöhtem Maße, wenn die Stämme sich vom Boden, den sie seit Jahrhunderten bebaut hatten, lösten und auf die Wanderung gingen. Sie war im tiefsten Grunde die religiöse Einheit. Man kann von einer Sippenseele sprechen, die im Blute ruhend den Einzelnen unbewußt leitet, ja zu Zeiten sogar Gestalt annehmen und einem Sippengliede warnend erscheinen kann, wie es Bernhard Kummer (Midgards Untergang) und Wilhelm Grönbeck bei den nordischen Isländern schildert. Wer den Sippenfrieden brach, hatte Göttliches verletzt, war ein Verräter, war „Wolf im Weihtum“. In jener Zeit, da Ulfilas wirkte, trat wohl zum ersten Male an gotische Väter die tiefernste Frage heran, die Jahrhunderte danach noch fromme Germanen aufs Tiefste erschütterte: wie erhalten wir die heilige Einheit unserer Sippe, wenn einzelne der Blutsbrüder am Heiligsten treulos wurden? Mit der Annahme des fremden römisch-jüdischen Glaubens war ja das Band zerrissen. Die Abgefallenen nahmen am heiligen Blutopfer in der Halle unter dem Hochsitz nicht mehr teil, sie fehlten beim fröhlichen, gemeinsamen Minnetrank der Götter. Sie mußten ja fehlen, denn nach ihrem Fremdglauben war ihnen Opferfleisch essen und Thors Minne trinken ein „Greuel“ geworden. Die Sippengenossen waren ja „Heiden“, und die Religion des Nazareners war voll der Verachtung und des Hasses gegen die Heiden. Mit vollem Bewußtsein sollten sie, das verlangte die neue Lehre, die Blutsbande niedertreten. Das war ja ein hohes, dem neuen Gott Jahwe wohlgefälliges Werk und wurde im „Himmel“ belohnt. Das furchtbare Wort der neuen Lehre: „So jemand zu mir kommt, und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein“, tat damals wie tausend Jahre später seine volkszerstörende Wirkung. An die Stelle der „nur irdischen, daher vergänglichen“ Blutbindung trat die Bindung „an die heilige Gemeinde der Gläubigen“, in der „allzumal einer in Christo“ war, ob Grieche oder Jude, Römer oder Germane. Was sollte die nun im innersten Wesen erschütterte Sippe tun? Man konnte die Treulosen aus dem heiligen Frieden verstoßen. Man hat es getan, aber mit unsicherem und zweifelndem Herzen. Trotz des Unfriedens, den der Abtrünnige der Sippe brachte, stand er noch in Blutsverbindung mit ihr; denn Blut war auch damals schon dicker als Taufwasser! Wenn Lebensgefahr ihm drohte, hielt die ganze Sippe wieder zu ihm, wie wir später sehen werden. Die dem Germanen eigene scheue Zurückhaltung vor dem Glauben des anderen, die durch Ausstoßung christlicher Sippenglieder keine richtige Befriedigung fand, suchte nach anderen Wegen. Man ließ die verlorenen Glieder gewähren. Aber auch dies brachte keine innere Lösung des schweren Zerwürfnisses. Der Frieden Midgards war verloren, und oft lösten die Christen, die sich zu einer Gemeinde um ihren Bischof zusammenscharten, auch räumlich das Band der Sippe. Nicht selten wählten Germanen den dritten Weg zur Lösung: um die Einheit zu wahren, trat die ganze Sippe nach dem Treubruch einzelner zur neuen Lehre über. So heilig war den Ahnen das Band des Blutes! Zum Bruch des inneren Friedens kam durch die Missionstätigkeit des Ulfilas eine große außenpolitische Gefahr. Jenseits der Donau, vom Schwarzen Meer bis zur Mündung der Theiß, stand der Landesfeind, der Römer. Der Kaiser Konstantin, dem bei aller Heimtücke und Grausamkeit große militärische und staatspolitische Tatkraft nicht abzusprechen sind, hatte durch eingreifende Reformen im Heer und Beamtentum die Widerstandskraft des schon erschlaffenden Imperiums wieder gehoben, hatte den Legionen Zuversicht und Kampffreude wiedergegeben und durch Verlegung der Residenz nach dem nach ihm benannten Konstantinopel der Welt gezeigt, daß er die Hauptkraft des Reiches hier an der bedrohtesten Grenze gegen die Goten einzusetzen gedachte. Dadurch war es ihm gelungen, einzelne vorgeprellte Gotenstämme in einer Reihe glücklicher Gefechte über die Donau zurückzudrängen und so die Niederlagen früherer Kaiser wieder gutzumachen. Trotz zeitweiliger Friedensverträge und sogar Waffenhilfe der Goten herrschten Haß und Kampfstimmung zwischen den beiden Völkern. Nun gingen christliche Priester ungehindert über die Donau hinüber und herüber. Sie unterstanden mit ihren gotischen Gemeinden kirchlich dem arianischen Patriarchen von Konstantinopel. Damit war nicht nur der inneren Verrömerung dieser gotischen Christen Tür und Tor geöffnet, sondern es bestand auch die Gefahr, daß bei den unausbleiblichen inneren Gegensätzen im Gotenvolk diese in den Römern die mit ihnen im gleichen Glauben Verbundenen, Näherstehenden, ja ihre Beschützer gegen die eigenen Volksgenossen sehen mußten. Es ist das erschütternde Bild, das wir in allen Jahrhunderten der germanischen „Bekehrung“ sehen: Die Heiden, die den alten Göttern treu bleiben, wurden die Vertreter der Freiheit und Selbständigkeit ihres Volkes, während die Abtrünnigen, die Christen, römisches oder fränkisches Joch dem Kampf für die höchsten Volksgüter vorzogen und damit zu Volksverrätern wurden. Felix Dahn schreibt in seiner „Urgeschichte der romanischen und germanischen Völker“ (7a): „Unter zwei Gesichtspunkten konnte, ja mußte auch der damalige Germanenstaat einschreiten. Einmal, wenn die Christen mittelbar oder wenn sie zweitens unmittelbar den Staat bedrohten oder schädigten: beides taten sie fast ohne Ausnahme in jedem Fall des Bekehrungsbetriebes. Nicht nur weigerten sie die Beiträge zu den Götterfesten, Opfern, die, mit dem Ding verbunden, zugleich staatliche Bedeutung hatten und die Zusammengehörigkeit der Gaue im gemeinsamen Dienst der Stammesgötter zum Ausdruck brachten, – sie gingen angreifend vor. Der Eifer der fremden Priester und deren Neubekehrten schalt laut die alten Volksgötter „Götzen“, „Lügengötter“ (Galiuga guds), leugnete ihr Dasein oder, häufiger, erklärte sie für böse Geister, Dämonen, Teufel. Sie verbrannten die Haine und Holztempel, zerschlugen die Götterbilder der Heiden, besudelten ihre heiligen Quellen, hemmten mit Gewalt ihre Opfer. Zweitens konnte aber auch unmittelbarer Landesverrat der Christen kaum ausbleiben: kam es zu Reibungen mit den Heiden, so riefen selbstverständlich die Christen ihre Bekehrer, Freunde, Glaubensbrüder, die Römer ins Land, auch um den Preis der Freiheit Schutz ihres Bekenntnisses erkaufend. Den Römern aber – hieß der Imperator Tiberius oder Constantius (Konstantin war 337 gestorben), betete er zum Jupiter des Kapitols oder zu den Heiligen oder zu keinem Gott – war immer und blieb ein Hauptvergnügen und Hauptmeisterstück der Staatskunst, Zwietracht unter den Germanen zu säen oder die stets üppig wuchernde zu fördern, und in Unterstützung der schwächeren Partei die stärkere zu vernichten, dann aber auch die Schützlinge zu knechten. Und nun war ja diese Schlauheit des Völkermords vollends ein frommes, Gott und den Heiligen wohlgefälliges Werk geworden: die Vernichtung oder Zwangstaufe der germanischen Heidenschaft sicherte sowohl die Herrschaft auf Erden als zugleich die ewige Seligkeit im Himmel.“ Auch der Bekehrungsangriff des Ulfilas gegen die Westgoten brachte dem Volke Unheil, gebar aber den großen Versuch des treuen und edleren Volksteils, die Gefahr zu bannen. Die Goten ließen den Apostel und seine mitgebrachten Gehilfen lange gewähren. So muß es seiner Beredsamkeit gelungen sein, eine beträchtliche Schar von Abtrünnigen auf seine Seite zu bringen. Die Beziehungen dieser Christen zu den Römern wurden allmählich so eng, daß ein Einschreiten im Interesse des Volksganzen erforderlich wurde. In dieser Zeit erstand dem Volk der Westgoten in dem Gaukönig Athanarich ein Führer, der den Beinamen „der Große“ erhalten haben würde, wenn eine gotische Geschichtsschreibung seine Taten überliefert hätte. Athanarich war als König verantwortlich. Er klagte auf dem Gauthing die Christen wegen Sippen- und Landesverrat an. Wir kennen die Einzelheiten der Verhandlungen und Entscheidungen auf diesem Gauthing nicht. Wir wissen nur, daß keinem Christen ein Haar gekrümmt wurde. Inhalt der Anklage waren rein staatspolitische Erwägungen. Die unter der Schirmherrschaft des römischen Kaisers und seiner Priester stehende Mission mußte als volkszerstörende Gefahr verschwinden. Vielleicht hatte man den Fremdgläubigen die Wahl gelassen, zu Volkstum und Väterglauben zurückzukehren oder aus dem Lande zu weichen. Ulfilas wählte das Letztere. Er rief den Schutz der Römer an, und zog, nachdem die Erlaubnis des Kaisers Konstantius eingetroffen war, mit seiner Herde über die Donau ins Feindesland. Oft waren gotische Stämme über die Donau gegangen, aber in Waffen als Eroberer oder als Hilfstruppen für den Kaiser bei den häufigen Thronstreitigkeiten. Ulfilas’ Christen aber gaben die Volksfreiheit auf und beugten sich friedlich unter das Joch der Feinde. Sie wurden am Fuße des „hohen Balkan“ in Bulgarien angesiedelt. Dort lebten die „Kleingoten“ oder „Moesogoten“, wie sie genannt wurden, als römische Untertanen noch lange Zeit, (8) beteiligten sich aber nicht mehr an den folgenden großen Kämpfen ihres Volkes. Ulfilas, der Bischof und Führer dieser Auswanderer, wurde von den römischen Kaisern hochgeehrt. Mit Recht, denn seine Tat hatte den verhaßten Goten einen schweren Verlust an Volkskraft zugefügt. Wenn aber Kaiser Valenz, der die christliche Mission am fanatischsten betrieb und dessen Vertrauter Ulfilas war, ihn „Moses der Goten“ nennt, weil er sein Volk vor den schrecklichen Heiden ins „gelobte Land“ geführt hatte, so ist diese Bezeichnung vom germanischen Standpunkt aus eine mehr als zweifelhafte Ehrung. So hatte die christliche Minderheit das Gesamtwohl des Volkes dem Fremdglauben geopfert und für sich das höchste Gut, die völkische Freiheit, preisgegeben. Die neue Weltreligion, in deren Wesen es lag, die „Menschen herauszuerlösen aus allerhand Stamm, Nation und Blut“, (9) war zum ersten Male in germanisches Volkstum eingebrochen. Auf dem Boden der Verrömerung, die in den hundert Jahren der Grenzberührung mit den Südländern allmählich gewachsen war, hatte bei ihm das Christentum die letzten völkischen Bindungen restlos beseitigt. Die Quellen, die über diese Ereignisse und die folgende Zeit berichteten, nämlich die Akten des „heiligen Saba“ und des „heiligen Nikeras“, sind in vielem durchaus unglaubwürdig, wie ja leider die zahlreichen „Vitae“ (Biographien) der christlichen Heiligen auch in späterer Zeit als Geschichtsquellen kaum zu benutzen sind. Mit wildem Haß schildern sie diese ersten „Christenverfolgungen“ unter den Goten (348 bis 354) und können sich nicht genug tun an Schmähungen der „blutdürstigen“ Heiden und des „Scheusals“ Athanarich. Die frommen Schreiber und modernen Nacherzähler vergessen dabei ganz, daß sie selbst oft mit Erstaunen die Duldsamkeit dieser Heiden erwähnen. Wenn von den gotischen Christen die Rückkehr zu Volk und Väterglauben verlangt wurde, so lag eine tiefe sittliche Pflicht dieser Forderung zugrunde: die Einheit und Freiheit des Volkes in schwerer Kampfzeit. Wir vermissen diesen sittlichen Gedanken völlig bei den bald darauf erfolgenden ersten Heidenverfolgungen unter Theodosius (379 bis 395), bei der viehischen Ermordung der heidnischen Philosophin Hypatia von Alexandria durch fanatisierte, christliche Mönche und bei den Heidenabschlachtungen unter dem Segen der Kirche auf niedersächsischem und norwegischem Boden. Die Glaubwürdigkeit der Heiligenakten wird nicht erhöht durch die zahllosen Wundergeschichten. Der finsterste Aberglaube treibt seine Blüten. Da prallen die Waffen heidnischer Goten an den Christen wirkungslos ab. Die Leiche des Märtyrers Niketas aber bleibt, obwohl sie wochenlang in der Erde lag, wunderbar erhalten, ein Schicksal, das den Heiligenleichen häufig in der Geschichte zustößt. So strömte die Leiche St. Severins, als man sie nach 6 Jahren aus der Erde grub, „die süßesten Wohlgerüche“ aus (sie war nicht balsamiert!), wie ein deutscher Kirchengeschichtler im 19. Jahrhundert seinen Lesern erzählt. Wenn man aus solchem Wust den geschichtlich wahren Kern herausschält, so ergibt sich Folgendes: Nicht alle abtrünnigen Goten waren mit Ulfilas zu den Römern übergegangen. Im Vertrauen auf den Sippenschutz und auf die Gutmütigkeit und Duldsamkeit der Volksgenossen waren viele zurückgeblieben. Man war vorsichtiger geworden, hielt sich nach außen hin in seiner christlichen Betätigung zurück und betonte seine gute nationale Gesinnung. Gesinnungsheuchelei hat es auch damals schon gegeben! Die früher offenen Beziehungen zu den Römern wurden, wie die Quellen erzählen, jetzt heimlich fortgesetzt, und der gute Zweck heiligte das Mittel manch frommen Betruges. Von christlichen Goten verborgen, arbeiteten im Stillen sogar einzelne Werbepriester weiter. Athanarich, der als Gaukönig für die Durchführung des Thingbeschlusses verantwortlich war und mit klarem Blick das Weiterschwelen der Gefahr erkannte, sah sich nun zum Einschreiten veranlaßt. Er ließ den eifrigsten Wühler, den Priester Sansala, verhaften. Doch gelang es diesem, auf römisches Gebiet zu entfliehen. Dann zog der König mit seiner engeren Gefolgschaft, „Räuber nennt sie der heilige Saba“ (Dahn), von Dorf zu Dorf und ließ die Einwohner vor einem auf einem Wagen mitgeführten kultischen Gegenstand (es ist aus den Quellen nicht klar zu ersehen, worum es sich gehandelt hat) opfern und das Opferfleisch essen. Wer sich weigerte, bekannte sich damit als Feind des Glaubens der Väter und als Freund der Römer. Diejenigen, „die die volkstümliche Gottesverehrung vernichtet hatten“, (10) wurden bestraft. Ob es damals schon zu Todesurteilen kam, ist nach Edmund Weber (11) zu bezweifeln. Das Verbrennen und Ertränken einzelner Christen ist wohl erst bei der zweiten „Christenverfolgung“ 369 bis 372 erfolgt.
Christentum und Landesverrat
Im Jahre 366 flammte nach einer Zeit der Ruhe und des Volksfriedens der Krieg mit den Römern wieder auf. Athanarich schlug sich in drei Feldzügen gegen Kaiser Valenz so erfolgreich, daß dieser sich gezwungen sah, Frieden zu schließen. Auf einer Donauinsel traf der Kaiser des Ostreiches mit dem Germanenfürsten zusammen, da sich der stolze Athanarich, ein bezeichnender Zug, weigerte, römischen Boden zu betreten.
Kaum hatte Athanarich Frieden mit den Römern geschlossen, da entbrannte der Kampf im eigenen Lande gegen Volksgenossen, ein Kampf, der zeigte, wie tief sich das römische Gift schon in den germanischen Volkskörper eingefressen hatte, und wie richtig Athanarich handelte, als er in staatsmännischer Vorausschau die Fremdreligion bekämpfte.
Fridigern, ein Gaukönig wie Athanarich, geriet mit diesem in Streit. Die Gründe wissen wir nicht, wir erfahren nur, daß jener mit den Römern befreundet war. Ob diese Freundschaft ehrlich war, oder ob sie dem ehrgeizigen Teilfürsten nur dazu dienen sollte, innerpolitische Macht zu gewinnen, ob er schon vor dem offenen Kampf mit Athanarich christlichen Versprechungen und Bedingungen sein Ohr geliehen hatte, ist ebenfalls nicht aus den Quellen zu ersehen.
Von Athanarich geschlagen, floh er über die Donau zu den Landesfeinden. Als Christ (12) kehrte er unter dem Schutze römischer Legionen wieder zurück und wurde von diesen wieder in sein Amt eingesetzt. Jetzt zeigte es sich offen, daß Christ sein und römische Gesinnung haben eins waren. Die zahlreichen Priester, die ihm „Valenz mitgegeben“ hatten, begannen nun unter seinem Schutze und unter den Waffen römischer Zenturien mit Feuereifer die „Bekehrung“. So ist unzweifelhaft, daß dies die Bedingung für den schändlichen Verrat, römische Waffenhilfe auf gotischem Boden, gewesen war.
Ist es verwunderlich, daß der Mann, dem Leben und Freiheit seines Volkes über alles ging, König Athanarich, sich nun entschloß, das tödliche Gift, das Christentum, unerbittlich zu zertreten, daß er jetzt „aus Haß gegen die Römer den Namen der Christen austilgen wollte aus seinem Volke“, wie eine kirchliche Quelle (13) in unbewußter Ehrlichkeit meldet? Aus Haß gegen die Römer! Dieses Zugeständnis eines staatspolitischen Grundes ist wichtig zu betonen, nachdem uns die „Christenverfolgungen“ der Geschichte unzählige Male in sentimentaler Unwahrhaftigkeit als Ausfluß heidnischer Grausamkeit geschildert worden sind. Ob es sich um die Christenbekämpfung des Kaisers Deokletian oder die des großen Westgotenkönigs Athanarich, um die „Katholikenverfolgungen“ der Vandalenkönige in Afrika oder um die Überfälle sächsischer Bauern auf fränkische Priester und Klöster handelte, in allen Fällen hatte man duldsam und großmütig die fremde Sekte erst gewähren lassen; als aber die tödliche Gefahr für Staat und Volkstum erkannt war, der Hoch- und Landesverrat offensichtlich wurde, griff der Staat zur Waffe.
Die grausame Art des Kampfes entsprach der Zeit. Sie war den Heiden so wenig fremd wie den Christen. Die Brandfackeln Neros unterscheiden sich in nichts von den Scheiterhaufen der christlichen Inquisition, und der Wahnsinn jenes Kaisers war um nichts größer als der eines Torqemada. Man hätte höchstens erwarten müssen, daß die Sitten milder geworden wären, nachdem die Religion der Liebe über tausend Jahre unter abendländischen Menschen geherrscht hatte. Leider widerspricht die Geschichte dieser Erwartung.
Das Christentum hatte im Gaustaat Fridigerns seinen „weltlichen Arm“ gefunden. Es ließ nicht Ruhe, bis der, den es tödlich haßte, Athanarich, vernichtet war! „Unter Voraustragung des Kreuzes“ erfochten jetzt Fridigern, die gotischen Arianer und die zu ihrer Hilfe das Land überziehenden Legionen in offener Feldschlacht durch das Übergewicht römischer Waffen und vielleicht auch Menschenmassen den Sieg. Athanarich muß flüchtig mit wenigen Getreuen das Land räumen, und alsbald nimmt die Bekehrung immer größere Verhältnisse an.“ (Dahn.)
Das Kreuz war Feldzeichen der Volksfeinde und Landesverräter geworden. Der Kampf zwischen den beiden Gaukönigen war nicht mehr eine jener Fehden, wie sie so zahlreich in den Germanenreichen jener kampffrohen Zeiten zwischen ehrgeizigen Stammesführern tobten, sondern hatte eine andere, den Germanen, ehe sie das Christentum kannten, durchaus fremde Bedeutung bekommen. Er war Religionskrieg geworden! Hinter dem christlichen Fürsten stand der eifernde Priester. Neben die Gefolstreue, die die gotischen Krieger an ihren König Fridigern kettete, war der Glaubensfanatismus getreten. Nicht mehr Waffenruhm allein war zu gewinnen, sondern die von den Priestern versprochene ewige Seligkeit in Jahwes Reich stand in Aussicht. Die Heiden zu erschlagen, auch wenn sie Volksgenossen waren, war ein Gott wohlgefälliges Werk.
Etwas Fremdes, durch und durch Ungermanisches war in die Herzen jener Goten eingezogen, die sich dort, wo sie das Banner gewöhnt waren, das Kreuz vorantragen ließen.
Athanarich war aus Gau und Heimat vertrieben, aber nicht vernichtet. Bald erschien er an der Spitze der ihm treu Verbliebenen wieder und zog in sein Land ein. Seine „Gottlosigkeit“ war noch immer nicht gebrochen, wie die kirchliche Quelle wehmütig bedauert. Er verfolgte das Kreuz, eine Tatsache, die allerdings nach den Erfahrungen, die er mit diesem Feldzeichen gemacht hatte, verständlich ist. In seinem eigenen Gau war es unter dem Druck römischer Waffen zu zahlreichen Bekehrungen gekommen. Wir wundern uns darüber nicht; wir wundern uns vielmehr darüber, daß noch so viele seiner Goten den Göttern und dem Volkstum treu geblieben waren.
Über die Zustände im Lande nach der Rückkehr des Königs geben die Akten des heiligen Saba und Niketas Auskunft. Obwohl sie von Haß gegen den verruchten Heidenkönig erfüllt sind, entschlüpft den Erzählern doch manches Ereignis, das gleicherweise die Großherzigkeit und die Gutmütigkeit der gotischen Heiden gegenüber den Christen zeigt und manche christliche Schilderung von heidnischer Grausamkeit zu streichen zwingt.
Ich kann diese Begebenheiten nicht besser erzählen, als es Altmeister Dahn in seinem Geschichtswerk tut, und führe deshalb seine Beschreibung wörtlich an:
„Wir erfahren, daß ohne irgendwelchen Glaubenshaß die Heiden diese christlichen Bekehrungen in der Sippe duldeten, während ein anderer Teil der Sippenglieder bei dem Glauben der Väter blieb: als nun von Staats wegen von den Fürsten und Beamten Verzehrung von Opferfleisch als Zeichen des Rücktritts in das Heidentum den Getauften auferlegt ward, entziehen sich sehr viele, auch Priester, dem Martyrium durch Flucht zu den Römern. Ja, von Glaubenshaß der Heiden und echtem Glaubensmut der Christen ist so wenig die Rede, daß sehr lange eine Täuschung vorhält, welche die Gutmütigkeit der Heiden und die Gewissensverleugnung der Christen miteinander ersonnen haben. Um die Beamten glauben zu machen, die Getauften seien zurückgetreten, diesen aber durch Betrug das wirkliche Verzehren von Opferfleisch zu ersparen und sie gleichwohl der Bestrafung zu entziehen, lassen die Heiden von den Getauften in Gegenwart der Beamten Fleisch verzehren, das sie für Opferfleisch nur ausgeben, während die Christen wissen, daß es nicht Opferfleisch ist! Diese nehmen also keinen Anstand, ihren Glauben durch eine Handlung zu verleugnen, die den Beamten als Rücktritt ins Heidentum gilt, während sie dem Christengott gegenüber sich darauf berufen, daß sie ja in Wahrheit doch kein Opferfleisch genossen. Diese bezeichnende Vorwegnahme späterer „Jesuitenmoral“ dauert so lange, bis der wackere Saba in echt christlichem Eifer den Beamten den frommen Betrug anzeigt. Allein die anderen Christen sind mit solcher Wahrheitsliebe schlecht zufrieden, und sie vertreiben den allzu Gewissenhaften, rufen ihn aber doch bald beschämt zurück. Als nun König Athanarich auf seiner Rundfahrt vor dem Dorfe eintrifft und frägt, ob es Christen enthalte, wollen die gutmütigen Heiden abermals ihre Verwandten retten und schwören, es sei kein Christ unter ihnen. Und die anderen Christen sämtlich lassen sich diese Beteuerungen gefallen: nur Saba tritt vor und bekennt mutig seinen Glauben. Der König fragt nach dem „Vermögen“, d. h. nach der Bedeutung des Menschen in der Gemeinde. Als die Heiden antworten: „Herr, er hat nichts, als was er am Leibe trägt“, d. h. also namentlich keinen Grundbesitz, daher keinerlei Einfluß in der Volksversammlung, spricht der König verächtlich: „ein solcher kann keinen Schaden anrichten“ und begnügt sich, ohne ihn irgend zu strafen, ihn aus dem Ding fortzuweisen: nicht einmal aus dem Dorf, denn sein Verbleiben wird vorausgesetzt. Also nur die Einflußreichen, die Grundbesitzer, die staatsgefährlichen Christen verfolgt der König, nicht den Christen als solchen trotz herausfordernder Kühnheit.
Das war im Jahre 370 oder 371. Zu Ostern 372 wird Saba allerdings vom Könige durch Bewaffnete verhaftet: aber wohl nur deswillen, weil er in dem Hause eines christlichen Priesters Sansala (siehe oben), der sich aus dem römischen Gebiet zurückbegeben hatte, weilte. Saba wird erst gefesselt, nachdem ihn die Hausfrau der Hütte, wo sie übernachteten, aus leichterer Haft heimlich befreit hat. Die Aufforderung, Opferfleisch zu genießen, beantwortet Saba mit unflätigen Schimpfreden wider den König: „Ekel und scheußlich sind die Speisen, wie Athanarich selbst, der sie sendet.“ Einer der Krieger des Königs empört über diese Beschimpfung seines Herrn, schleudert den Wurfspieß auf Saba: das Wunder, daß die Spitze diesen unschädlich, „wie eine Wollflocke“ berührt, macht aber befremdlichermaßen auf den König so wenig Eindruck, daß er nun die Hinrichtung des Christen befiehlt. Saba verlangt, dann müsse auch der christliche Priester mit ihm sterben, worauf ihm die Gefolgen des Königs sehr richtig erwidern: „Nicht deine Sache ist es, dies zu befehlen!“ Er verkündet vorher noch dem Herrscher ewige Verdammnis in der Hölle und wird dann in dem Flusse Musäus ertränkt. Seine Überbleibsel ließ später der römische Dux der Grenztruppen auf kaiserliches Gebiet bringen.“
Anmerkungen:
(1) Proskinesis = Kniefall und Anbetung.
(2) Es tut dieser Tatsache keinen Abbruch, daß die amtliche Anerkennung der christlichen Kirche erst durch das Toleranzedikt von Mailand 313 erfolgte. Selbstverständlich hatte sich die hierarchische Gliederung schon vorher gefestigt. Der Bischof von Sirmium hatte das Primat über die Tochterkirchen von Dakien. Diese Beziehungen waren vor der Anerkennung nur geheim, dafür aber um so gefährlicher.
(3) Der geschichtliche Wert dieser Angaben ist aber gering.
(4) Durch diese Gefangenen sollen nach Philostorgius Hist. eccles. II 5. viele Goten bekehrt worden sein, da sich unter den Gefangenen auch christliche Priester mit befunden hätten.
(5) Matth. 26. 52.: „Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.“
(6) An dieser Stelle bedarf eine Bemerkung des Philostorgius Hist. eccles. II. 5. der Erwähnung, die die Absicht des Christentums, den Mehrwillen des Volkes herabzusetzen, kennzeichnet: „Ulfilas übersetzte alle Schriften in ihre eigene Sprache, außer die Bücher der „Könige“, weil diese Kriegsgeschichte enthielten, dieses Volk aber, das so kampffreudig war, mehr eines Zügels für seine Kampfbegeisterung, als des Antriebes dazu bedurfte.“
(7) Dr. Alois Huber, Geschichte der Einführung und Verbreitung des Christentums in Südostdeutschland, Bd. 1 S. 289.
(7a) Bd. 1, Seite 423.
(8) Jordanis, Kap. 51, nennt sie „ein zahlreiches Volk, aber arm und schwächlich“.
(9) Offb. Joh., Kap. 5, Vers 9.
(10) Sokrates, Hist. eccles. IV. 33.
(11) Edmund Weber, „Das erste germanische Christentum.“ Leipzig, Adolf Klein.
(12) Aus Dankbarkeit dem Kaiser Valenz gegenüber wurde er Christ wie Sokrates Hist. eccles. IV. 33, berichtet: … Es handelte sich wohl um eine vorhergehende Abmachung.
(13) Epiphanias: Adv. häreses, 1, 14.