Von dem allmählichen und immer klarer werdenden Bewußtsein unserer Menschenart, die Grundideen eines eigenen, aus unserem tiefsten Wesen stammenden Glaubens zu finden.
Inhaltsverzeichnis
VII. KAPITEL Anzeichen und Ansätze europäischer Befreiung vom Dogma
125. Die Renaissance als früher Versuch
126. Doppeldeutiger Wert des Persönlichkeits-Begriffes
127. Positive Werte der Renaissance im nordisch-germanischen Sinne
128 Die religiöse Aussage der großen Dichter des Mittelalters
129. Wolfram von Eschenbachs Parzival
130. Walther von der Vogelweides Kampf gegen den Papst
131. Walthers unchristlichster Spruch
132. Verhältnis von Mystik zum christlichen Dogma
133. Meister Ekkehart
134. Wer ist zur Mystik veranlagt?
135. Mystik wird der Kirche gefährlich
136. Der päpstliche Bannfluch gegen die 26 Sätze
137. Die 26 Lehrsätze des Meister Ekkeharts
138. Heinrich Seuse, genannt Suso, Schüler Meister Ekkeharts
139. Von der innerlichen Gelassenheit
140. Der Mystiker Johann Tauler
141. Schlußbetrachtung der frühen Mystik
VIII. KapitelDer Zusammenbruch des christlich-kirchlichen Weltbildes
142. Die kopernikanische Wende
143. Giordano Bruno, verbrannt als Ketzer
144. Galileo Galilei, zum Widerruf gezwungen
145. Johann Keplers dynamisch-mechanisches Weltbild
146. Überschau der geistigen Veränderungen
147. Die Zerstörung des ptolemäischen Erdbildes
148. Die großen Entdeckungsreisen
149. Franzesco Pizarro. Vernichter der Inka-Kultur
150. Ergebnisse der Entdecker, Eroberer und Bekehrer
151. Der Humanismus als Bildungsrevolution
152. Erasmusvon Rotterdam
153. Die humanistische Persönlichkeit
154. Unparteiischkeit hat seine zwei Seiten
155. Probleme um Johannes Reuchlin
156. Ulrich von Hütten – Sanger und Held eines deutschen Humanismus
157. Franz von Sickingen – Freiheitsheld und Kämpfer für die Reformation
158. Unaufhaltsam der Neuzeit entgegen
159. Abschließende Beurteilung des Humanismus
IX. KAPITEL Reformation der Kirche oder Revolution der Religion?
160. John Wiclif, Vorläufer
161. Jan Hus, Märtyrer der Reformation
162. Am Ende des Mittelalters
163. Ende der katholischen Autorität
164. Martin Luther beabsichtigt, die alte Kirche zu erneuern
165. Die Leipziger Disputation – der entscheidende Schritt zur religiösen Trennung
166. Der Reichstag zu Worms
167. Religion und Volksseele
168. Luthers Heirat mit Katharina von Bora
169. Thomas Münzers Versuch einer religiösen und sozialen Revolution
170. Thomas Münzer und Martin Luther
171. Thomas Münzers Ende
172. Der deutsche Bauernkrieg als religiöse Erscheinung
173. Freiheit und Glaube sind dem Bauern eins
174. Bis zum Reichstag von Augsburg
175. Wie es zum „Augsburger Bekenntis“ kam
176. Die Spaltung der Allgemeinen (Katholischen) Kirche
177. Notwendigkeit der neuen Entwicklungen
178. Johann Calvin (Jean Cauvin)
179. Die Prädestionationslehre
180. Der ..Calvinismus“ als starke politische Macht
181. Verschiedene Urteilsbildung bei anderen Kulturkreisen
182. Luthers und Calvins Abendmahlslehre
183. Was hat die „Reformation“ gebracht?
184. Ergebnisse
185. Die Zwickmühle des evangelischen Pfarrertums
186. Luthers deutsches Verdienst
X.KAPITEL 150 Jahre christliche Religionskriege in Europa
187. DasWormserEdikt
188. Die Schmalkaldischen Artikel
189. Der Schmalkaldische Bund
190. Der Jesuitenorden – die Waffe der Gegenreformation
191. Der Schmalkaldische Krieg
192. Die Verfolgung der Hugenotten
193. Die Pariser Bluthochzeit
194. Freiheitskampf der Niederlande
195. William Shakespeare – germanisches Dichtergenie
196. Geheimnisse des Lebens
197. England bis zur Reformation
198. Die Anglikanische Staatskirche
199. Cromwell und der puritanische Terror
200. Dreißigjähriger Krieg (l618-48)
201. Gustav Adolf (II.) von Schweden
202. Oxenstierna, Baner, Torstenson
203. Ergebnis und nachdenkliche Betrachtung
XI. KAPITEL Das Zeitalter der Aufklärung
204. Erschütterung alten Glaubens
205. Gottfried Wilhelm Leibniz( 1646-1716)
206. Jean Jacques Rousseau
207. Die falsche Lehre von der tabula rasa
208. Die RückkehrzurNatur
209. Die dritte These: Der Mensch ist gut
210. Rousseaus positive Wirkungen
211. Friedrich der Große
212. Der Schrecken der französischen Revolution
213. Napoleon Bonapartes Aufstieg und Ende
214. Wirkungen der französischen Revolution
215. Der nationale deutsche Reichsgedanke
216. Das Reich der Artvölker
217. Was ist ein „Heiliges Reich“?
218. Immanuel Kants Philosophie
219. Falsche Ideologien bewirken Volkstragödien
XII. KAPITELUmbruch im vorletzten Jahrhundert
220. Die Entdeckung des Volkstums
221. Die große Dichtung und der Artglaube
222. Der junge Goethe oder die Frage: Was ist Genie?
223. Der junge Goethe als Nicht-Christ
224. Der volksverhundene Goethe
225. Der reife Goethe
226. Goethe und die Religion
227. Goethes Weltbild
228. Goethes Humanitätsideal und Freimaurerei
229. Das Göttliche
230. Klärung gegen Fehldeutungen
231. Friedrich von Schiller oder der Aufbruch des deutschen Nationalgefühls
232. Schiller als Lehrer der Geschichte
233. Schillers Weltanschauung
234. Friedrich Hölderlin, Vorsänger des Artglaubens
235. Hölderlins Griechentum
236. Hölderlin als Stimme des Volkes
237. Otto Bangerts Gedicht
238. Heinrich von Kleist – die Fackel der Befreiung
239. Kleists volksnahe Werke als Schritte zum Nationalbewußtsein
240. Johann Gottlieb Fichte – Philosoph und Patriot
241. Ernst Moritz Arndt
242. Theodor Körner, Blutzeuge der Befreiung
243. Turnvater Jahn und Max von Schenkendorf
Vorwort zur 1. Auflage
Der erste Band des Buches ist fast durch die ganze Welt gegangen und hat eine so bereite und günstige Aufnahme gefunden, daß sich der Verfasser bestätigt in der Ahnung sieht, daß diese Untersuchung notwendig war. Ich lege nun hiermit den 2. Band vor. Er ist, besonders in dem ersten Teil, schwieriger zu lesen als das erste Buch. Er handelt von dem allmählichen und immer klarer werdenden Bewußtsein unserer Menschenart, die Grundideen eines eigenen, aus unserem tiefsten Wesen stammenden Glaubens zu finden. In den Mystikern kommt diese Sehnsucht zum Ausdruck. In der großen Politik erweist sie sich als Triebfeder der Befreiung, für die Millionen starben. In der Philosophie klingt sie bei Leibniz, Rousseau, Fichte und Kant an. In den Dichtern unseres Volkes, wie in denen der Artvölker, kommt sie immer deutlicher und drängender ans Licht. Schließlich wird diese Sehnsucht zu einer Flamme in den Freiheitskriegen aller Stämme des Nordens. Und im 19. Jahrhundert finden wir dann die ersten Spuren derjenigen Religionsauffassung, die wir heute Artglauben nennen.
Diese seelische und geistige Bewegung verfolgt das Buch untersuchend und ausdeutend im Sinne der Selbsterfüllung und Selbstverwirklichung unserer gesamten Art.
Möge auch der zweite Band dazu beitragen, die Herzen zu wecken, den Geist mit reichem Überzeugungsstoff zu versehen und die Tat hervorzurufen, welche uns allein vom vergangenen Dogma einer überlebten Lehre befreien kann.
Denn wir wollen der Lebenserfüllung jedes zu uns gehörigen Menschen dienen, der sein Inneres von den letzten Schlacken erlösen will, die noch den Weg in die Zukunft versperren können.
Glaube muß zur Tat führen; er wäre sonst kein Lebensglaube. Religion ist uns daher Darleben und Verwirklichung unserer tiefsten Überzeugung.
Sommersonnwende 1975
Dr. Wilhelm Kusserow
Vorwort zur 2. Auflage
Hiermit legen wir den 2. Band von Dr. Kusserows Hauptwerk in neuer Auflage vor. Auch in diesem Band mußte manches verbessert werden, einige Nachtrags-Kapitel umgestellt werden, einiges geändert und gestrafft werden. Wesentliche Änderung ist, daß dieser Band – anders als in der Erstauflage – nicht die Kapitel bis hin zu Nietzsche umfaßt, sondern mit Goethe, Hölderlin und dem Aufbruch in den Befreiungskriegen endet.
Der Durchbruch zu neuem Glauben erfolgte nämlich nicht erst im 20. Jahrhundert, sondern im letzten Jahrhundert. Goethe und Hölderlin haben ihre Abneigung gegen das Christentum noch mit Bezug auf die griechische Antike bezogen. Die nationale Begeisterung im Widerstand gegen die französische Besetzung durch die napoleonischen Truppen führte dann verstärkt dazu, den Blick auch auf die eigene Vergangenheit zu richten, in Vorgeschichte und Religion, sowie die eigenen Bräuche als wertvolles Kulturgut wiederzuentdecken. Hier sind insbesondere die Gebrüder Grimm zu nennen, die mit ihren Märchen- und Sagensammlungen, der Deutschen Mythologie, den Deutschen Rechtsaltertümern bahnbrechend gewirkt haben. Aber auch Uhland und andere haben ihren Blick auf die germanische Religion gerichtet, Mannhardt hat die Feld- und Waldkulte erforscht, und dies alles war die Voraussetzung dafür, Religionsgemeinschaften aus eigenem naturreligiösem Glauben heraus wieder-zubegründen, wie es dann in diesem Jahrhundert geschah.
Aber auch die wesentlichen Waffen zur Überwindung des Christentums wurden nicht in diesem, sondern im letzten Jahrhundert geschmiedet. Die Praxis des Christentums entlarvte Otto von Corvin mit einem Buch, das 1845 erschien, und das noch heute immer wieder neue Auflagen unter dem Titel „Der Pfaffenspiegel“ erfährt. Es ist heute nach wie vor lesenswert, wobei nicht verschwiegen werden soll, daß die Forschung in manchem noch mehr Kritisches herausgefunden hat, wozu auf Karlheinz Deschners bahnbrechendes Werk „Abermals krähte der Hahn“ verwiesen wird. Aber nicht nur die Praxis wurde kritisiert, sondern die religiösen Grundlagen des Christentums selbst.
Hier sind einmal neben Feuerbach zu nennen Eugen Dühring mit Ausführungen über „Ersetzung der (christlichen) Religion durch besseres“. Besonders aber natürlich Nietzsche, der den moralischen Anspruch und die moralische Selbstgerechtigkeit der Christen entlarvte, zertrümmerte und eine „Umwertung aller Werte“ forderte. Und noch von einer dritten Seite neben der Geschichtswissenschaft und der Philosophie her wurde die entscheidende Grundlage zur Überwindung des Christentums im letzten Jahrhundert gelegt: Mit Darwins „Entstehung der Arten“, welche Grundgedanken dann durch Haeckel weit ins Volk getragen wurden – auch mit der zutreffenden antibiblischen Auslegung -, wurde die Schöpfungsgeschichte der Bibel als Aberglaube entlarvt, und damit der Bibel der Rang eines „Wort Gottes“ genommen, sie zum mehr oder weniger glaubwürdigen Märchen-, Legenden- und Geschichtsbuch abgewertet.
Alle diese wesentlichen Ereignisse erfolgten im letzten Jahrhundert, so daß wir den 3. Band nicht mit diesem Jahrhundert beginnen lassen wollen, sondern mit der Romantik. Die am Ende der Erstauflage des 2. Bandes stehenden Kapitel sind also nicht ersatzlos weggefallen, sondern werden aufgrund dieser sinnvolleren Einteilung zu Beginn des 3. Bandes stehen, den wir im kommenden Jahr herausbringen werden.
Hamburg, zur Tag- und Nachtgleiche Herbst 3797 n. St.
Jürgen Rieger
Die religiöse Aussage der großen Dichter des MittelaltersWenn man eine Zeit nach ihren eigentlichen geistigen Antrieben befragen will, darf man die Stimme derjenigen nicht überhören, welche aus dichterischem Herzen und Gemüt, aus der Tiefe schöpferischer Gesinnung ein Bild des Daseins gegeben haben. Diese Bilder können und müssen verschieden sein, je nachdem, welche Seite des Lebens der Dichter zu seinem besonderen Gegenstand, zu dem ihm besonders angemessenen und verwandten Bearbeitungsstoff gewählt hat. Im Hochmittelalter, auf das wir noch einmal zurückgreifen wollen, also die Zeit von 1190 bis 1230, sind es drei Dichtergestalten, welche die kleineren bei weitem überragen, so daß sie in die bleibende Geistes- und Literaturgeschichte unseres Volkes eingegangen sind.
Es sind Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg. In allen drei Dichtern kommt zugleich auch eine bestimmte religiöse Haltung zum Ausdruck, nach der wir ihr Verhältnis zur kirchlichen Lehre wie auch zum christlichen Ideal abmessen, abwägen und beurteilen können. Bei allen dreien zeigen sich Züge, die starke Abweichungen vom Lehrinhalt oder von dem gültigen christlichen Sittengesetz erkennen lassen, und diese Sonderformulierungen deutscher Dichterseele sind bezeichnend für die immer wach gebliebene Ablehnung der eigentlich christlichen Forderungen und die innewohnende germanischheidnische Haltung zu den Lebensfragen.
Unter diesem Gesichtspunkt werden wir jeweils das Hauptwerk der Dichter betrachten und es auf die erkennbaren Wesensmerkmale eingeborener Haltung und germanisch-deutschen Charakters hin prüfen. Wir behandeln zuerst Gottfried von Straßburgs Werk „Tristan“, welches etwa um 1210 entstand und das „Epos der Sündigen Liebe“ genannt werden kann.
Gottfried dichtete, wie fast alle großen mittelhochdeutschen Dichter, – mit Ausnahme der aus dem niedersächsischen Sprachgebiet stammenden, wie Heinrich von Veldeke – sein Epos in oberdeutscher Sprachform, einer Mundart, die die damalige Hochsprache der Gebildeten darstellte und deren feinen und nur dem Fachmann erkennbaren Unterschieden die jeweilige Dialekt-Herkunft des Verfassers anzumerken ist. Er war aus bürgerlicher, patrizischer Familie, welche die gesamte Bildung jener Zeit in sich verkörperte, und er hat in seiner Dichtung wohl den Höchstpunkt sprachlicher Kunstgestaltung des Mittelalters erreicht. Daher ist diese Dichtung „Tristan“ schon wegen ihres rein aesthetischen Wertes von gültiger Dauer, wenn man die Originalsprache lesen und verstehen kann. Aber auch in Übersetzungen und dichterischen Übertragungen ist sie von hohem und genußreichem Werte für jeden tiefer empfindenden Menschen. (Siehe Will Vesper: Tristan.) Der Held der Geschichte, die in dreihebig klingenden oder vierhebig stumpfen Versen in Reimform erzählt ist, ist das Kind des Königspaares Rivalin und Blanche-flur, das früh als Waise an den Hof des Oheims Marke kommt. Dort wird er zum Ritter erzogen, gewinnt aller Herzen und wird vom König auf Brautwerbung geschickt. Er gewinnt die schöne Isolde, deren Bruder er erschlagen hat, für seinen Lehnsherren und Freund, den König Marke, und führt die Braut im Schiffe ihm zu.
Dabei wird beiden ein Zaubertrank gereicht, der sie zu ewig währender Leidenschaft verbindet, so daß Isolde, nachdem sie die Gattin des Königs geworden ist, in heimlicher und ehebrecherischer Liebe alle Künste und Listen gebraucht, um ihren Mann mit Tristan zu betrügen. Entdeckt und wieder entschuldigt, abermals in den Verdacht und immer wieder untreu und in heißer Leidenschaft verbunden, schildert der Dichter diese sündige Beziehung in allen Farben glühender Sprachkunst, die selbst für das nur amtlich keusche Mittelalter unerhört war.
Man erinnert sich, daß nach echt- und altchristlicher Lehre der Leib Sünde ist, das Fleisch verworfen und die Ehe nur zur Befriedigung des Geschlechtstriebes eingesetzt (Paulus). Hier wird die Sünde als die höchste Lust gepriesen, die einem ganzen Leben Inhalt, allen Verfolgungen und Verdächtigungen zum Trotz Rechtfertigung gibt, die immer wieder geübt wird, Ehebruch der Frau, Freundesverrat des Mannes, Lug und Trug als Begleiter, und die beiden Entflammten selig-unselig macht in ihrer schicksalsbestimmten Verstrickung. Und dies auf dem Höhepunkt des christlichen Mittelalters von einem Künstler der großen Wertstufe immerwährender Dichtung.
Man sollte meinen, die Kirche hätte dieses Werk geächtet und verfemt. Man könnte annehmen, daß der Dichter als Ketzer und Sünder öffentlich angeprangert worden und – verdammt in alle Ewigkeit – von der Gesellschaft ausgeschlossen und zur Möncherei bestimmt worden wäre. Aber nichts dergleichen ist geschehen. Die Minnedichter waren ein anerkannter Stand, und selbst diese ausschweifendste Blüte am Baume der Liebeskunst der mittelalterlichen Minnedichtung wurde angenommen, gepriesen und als gültiges Kompliment für die Allmacht der Frauen und ihren Reiz bis zum Wahnsinn angesehen.
Wer wollte behaupten, daß Gottfried von Straßburgs Dichtung „christlich“ sei, den sittlichen Ansprüchen der Kirche entspreche und ein Brevier keuscher Liebesbezeugung zum Wohlgefallen der herrschenden Geistesmacht wäre? Nein, der Tristan ist kein christliches Dokument, sondern ein frühes Beispiel erwachender Lebenslust der europäisch, leicht romanisch-französisch gefärbten neuen Seele des Abendlandes.
XII. Kapitel Umbruch im vorletzten JahrhundertDie Entdeckung des VolkstumsAls Gegenwirkung gegen die Aufklärung, die im wesentlichen rational, das heißt verstandesmäßig gerichtet war, brach aus der Tiefe der Gemüter des deutschen Volkes eine Bewegung auf, die sich zunächst in einzelnen Menschen zeigte, dann aber bald weitere Kreise ergriff. Auf vielen Gebieten, denen der Dichtung und der Musik, des Volksbrauches und der Lebensführung setzte sich ein natürlicherer Drang zum Einfachen und Gesünderen durch, der sich auch auf politischem Gebiet äußerte. (Z. B. Sehnsucht nach einem einigen neuen deutschen Reich und einer volklich gerichteten Verfassung.) Am deutlichsten aber ergreifen wir dieses Bestreben bei einem Manne, der durch seinen Beruf in die Lage versetzt wurde, an einem, ihm an sich fremden, Volkstum die ganze Unmittelbarkeit schlichter Dichtung zu erleben.
Es ist Johann Gottfried Herder, geboren am 25. August 1744 in Mohrungen/Ostpreußen. (Welche blutige Ironie des Schicksals: Er bewirkte Erwachen und Stolz der slawischen Völker, ist also Mitverursacher des Panslawismus, mithin mit verantwortlich für für den Panslawisten-Kongreß 1848, der sich das Ziel setzte – mit Erfolg -, alle Deutschen jenseits von Oder und Neiße innerhalb von 100 Jahren zu vertreiben; typisch auch für deutsche Überobjektivität und politische Unbedarftheit). Er lernte Volkstum und Dichtung der baltischen Ostseeländer kennen und entdeckte in ihnen eine ursprüngliche Kraft, Schlichtheit des Gefühls, Einfachheit des Ausdrucks und Ungekünsteltheit menschlicher Beziehung, die ihm zum Vorbild für seine philosophischen und aesthetischen Gedanken wurden. In seiner großen Sammlung „Stimmen der Völker in Liedern“, zeigte er zum ersten Mal nach einer Periode der barocken Unnatur und Verschnörkelung die echte Seele des Volkstums auf und kam von da aus zu den Begriffen der Ursprünglichkeit jeder Menschenart, wenn diese ungezwungen aus sich selbst heraus sprechen kann. Insofern kann Herder der Bahnbrecher und Befreier für die ganze folgende Kunst des 19. Jahrhunderts genannt werden. Er führte zum natürlichen Denken und Betrachten hin und ließ jedem Volk seine eigene, ihm gemäße Ausdrucksweise und Sprache, die er am sinnfälligsten in Volksliedern erlebte. Das,was wir „Volkskunst“ und „Volksbrauch“ nennen, hat Herder in Estland und Livland gefunden, jenen Teilen des ehemaligen deutschen Reiches, welche die Deutsch- und Ordensritter besiedelt hatten. Später kam er nach Weimar und wirkte dort auf Goethe und Schiller mit eben diesen Anregungen, die er auf dem Lande in Ostpreußen und dem Baltikum empfangen hatte.
Hören wir noch die Würdigung im Brockhaus-Lexikon, die in kurzem ein gutes Bild von Herders Bedeutung und Wirkung gibt:
„Allen geistigen Bewegungen seiner Zeit offen, vom Pietismus, von Rousseau, besonders tief von Hamann bestimmt, wurde Herder einer der Überwinder der Aufklärung, ein geistiger Führer des „Sturms und Drangs“, Wegbereiter der klassischen und romantischen Dichtung und des Neuhumanismus. Dem nüchtern-einförmigen Vernunftglauben der Aufklärung stellte er die „Humanität“ entgegen, den vollen Gehalt des Menschseins, der zugleich naturbestimmt und freientwicklungsfähig, organische Anlage und schöpferische Leistung ist und sich in immer neuen Formen des Menschlichen, die alle ihren eigenen Wert und ihre eigene Würde haben, kund tut. Wie der Mensch, so ist für Herder : die Natur als ganze und in jeder ihrer Bildungen Ausfluß innerer, schöpferisch wirkender Kräfte; sein Weltbild ist ein vergeistigter Dynamismus…“
Wir erkennen in Herder und seinem Wirken den Anfang jener Kräfte, welche jeder Menschenart ihre eigene Seele zusprechen. Denn mit Folgerichtigkeit mußte aus solchen im Volke gewonnenen Erkenntnissen einmal der Gedanke empor steigen, daß die Rassen der Erde ihre eigene menschliche Seelenform besitzen, die ihren selbständigen Wert, ihre eigenen Gesetze hat, – und daher auch ihren eigenen Glauben haben muß. So gehört Herder zu den großen Wegbereitern eines neuen Jahrhunderts, wenn auch seine Fern- und Weiterwirkung sich erst fast zweihundert Jahre später zu zeigen begann.
Hier soll aus Gerechtigkeitsgründen nicht verschwiegen werden, daß Herder protestantischer Geistlicher war und durch Goethes Vermittlung 1776 nach Weimar berufen wurde, wo man ihm den Rang eines Generalsuperintendenten gab. So ehrte man ihn, der dies hinsichtlich seiner Wirkung für Volkstum und neue Erkenntnisse wohl verdient hatte, wenn auch nicht gerade wegen hervorragender Verdienste der Kirche gegenüber.
Aber die Rolle des evangelischen Geistlichen innerhalb seines Volkes ist immer zwiespältig gewesen. Und zwar rührt diese Geteiltheit des Wesens und Wirkens von der einfachen-zweifachen Tatsache her, daß ein Vertreter des Christentums an sich gebunden ist an die Weisungen der Lehre und der Bibel, und diese halten alle Menschen in gleicher Weise für bereit und fähig, die Lehre des Erlösers von dieser Welt anzunehmen, und machen dabei keinen Unterschied, ob schwarz oder gelb oder weiß. Die Natur aber macht diese Unterschiede, und Herder hat sogar den Weg gewiesen, daß aus der Erkenntnis solcher Unterschiede auch eine für unterschiedliche Menschen unterschiedliche Religion folgen muß. An dieser problematischen Stelle haben sich viele evangelische Geistliche innerlich schwer getan, und die Vorliebe für Nebenstudien (außerhalb der theologischen Verbildung) hat viele Pfarrer dazu geführt, sich mit Dingen des Volkstums und der Vorgeschichte zu beschäftigen (Frenssen oder Spanuth z. B.). Andererseits hat es auch Superintendenten gegeben, die vor den Großgräbern unserer Vergangenheit als Teufelswerk gewarnt haben und dazu beitrugen, daß solche zerstört worden sind. Jedoch hat sich oft die pflegliche Liebe zu ihrem eigenen Volk mehr durchgesetzt als das alttestamentarische Gebot: Zerstöre die Opferstätten der Heiden, denn der Herr, Dein Gott, wird Dir gnädig dafür sein.
Die große Dichtung und der ArtglaubeAm Beginn der großen deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts, auch „die deutsche Klassik“ genannt, steht für uns die Frage: was hat Glaube und im besonderen der Artglaube mit Dichtung überhaupt und mit dieser deutschen Dichtungsepoche an sich zu tun? – Dies ist eine grundsätzliche Frage. Dichtung berührt ihrem Wesen nach alle Gebiete des menschlichen Lebens, soweit diese von allgemeiner Bedeutung sind. Daher stellt Dichtung sowohl rein persönlich Menschliches dar als auch bedeutende Zeiten der Geschichte, die von allgemeinem Wert sind hinsichtlich der Erkenntnis des irdischen Lebens. Aber Dichtung spricht auch über die letzten Gedanken und Gefühle hinsichtlich der religiösen Vorstellung des Menschen und versucht, diese in ihrer Art, eben in der schöpferischen Aussage eines tiefen und echten Gemütes, auszudrücken und als solche gültig zu machen. Dieser letzte Gesichtspunkt der Werthaftigkeit und Gültigkeit einer dichterischen Darstellung und Verkündung führt zu der Beurteilung, ob ein Dichtwerk zeitbedingt und vergänglich oder weithinreichend und gar „ewig“ sein mag. Wir nennen daher einen Dichter „groß“, wenn sein Werk fähig ist, lange Zeiten menschlicher Entwicklung zu überdauern. Dies kann man dann auch als „klassisch“ bezeichnen.
In diesem Sinne ist der ungeheure Aufschwung eines bleibenden Dichtertums am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts zu verstehen, der uns Deutschen (und der ganzen Welt) eine Fülle von herrlichen Werken geschenkt hat, die an die Seite Homers und seiner Odyssee und Ilias und an die Seite Shakespeares gestellt werden können.
Der Hauptträger dieser – für unser Volk – gültigen Dichtung von „Ewigkeitswert“ ist Johann Wolfgang von Goethe.
In der Dichtung „Faust“ hat er auch religiöse Probleme berührt, die von einem neuen, menschlicheren und freieren Glauben getragen sind, als ihn die damalige Zeit vertreten hat. Goethe war auch darin seiner Zeit weit voraus und hat das Christentum nur noch in einer symbolischen, fast melodramatischen und verklärenden Weise am Ende des Faust II verwendet (wobei nicht unerwähnt bleiben darf, daß die Gestalt des „Gretchens“ nicht vorbildhaft für uns sein kann, und die isländischen Saga-Frauen aus anderem Holz geschnitzt sind). Ob das noch „Christentum“ genannt werden kann, möge jeder für sich selbst entscheiden. „Amtliches“ und lehrmäßiges Christentum nach dem Glaubens-Dogma der Kirche ist es jedenfalls nicht mehr. Wir kommen darauf noch zurück. Einer der kritischsten und geistreichsten Sprecher über dies Werk Goethes, Friedrich Theodor Vischer, auch der Vau-Fischer genannt, hat in einem Werk Faust III die katholisierende und mystisch verbrämte Abschluß-Szene des Faust II unnachahmlich (und sehr respektlos) als modernes Couplet dargestellt, also als eine mit kitschigen Mitteln arbeitende Entwürdigung höchster religiöser Gedanken. Wir wollen nicht das Urteil von Vau-Fischer teilen oder bejahen, aber der Kritiker hat hier einige schwache Seiten des alternden Genies getroffen, die dem nüchternen Realisten immer auffielen, nämlich das Abgleiten ins Symbolisch-Unverbindliche und ins Melodramatisch-Halbkünstlerische des nicht mehr ganz dichterisch Vollendeten.
Man nennt solche Menschen wie Goethe auch Genies. Das soll besagen, daß sie aus der Ursprünglichkeit eines Schöpfertums heraus schaffen, welches eine große Gabe ist, die der normale Mensch nicht hat. Das gilt für alle, die so weit über dem menschlichen Durchschnitt stehen und so schöpferisch sind, daß sie Bleibendes schaffen können, welches für Jahrhunderte oder gar über Jahrtausende hin Dauer, Wert und Gültigkeit besitzt. Aber solche Menschen sind deshalb noch nicht „Götter“. Sie bleiben immer noch Menschen mit persönlichen Eigenzügen, Stärken und auch Schwächen. Und daher ist es nicht unehrerbietig, wenn man offenbare Schwächen eines Genies erkennt und ausspricht. Freilich soll das in Ehrfurcht vor dem Menschen geschehen und nicht in kleinlicher Besserwisserei und Rechthaberei.
Die Genialität Goethes (seine dichterische Hochbegabung) ist unbestritten. Ihre Dauerhaftigkeit und Gültigkeit wird auch über unsere Zeit noch weit hinweg reichen und wirken. Wenn heute zeitgebundene und unreife ideologische Verzerrer das leugnen wollen, so sind sie vor dem Urteil jedes wissenden und tieferen Menschen bedauernswerte Vertreter einer seelisch unmündigen Generation, die sich zum Werkzeug fremder Ideen machen läßt. Goethe ist, welche Kritik man auch im einzelnen aussprechen mag – und es gibt auch berechtigte Kritiken -, wohl mit Schiller der größte Ausdruck dichterischer und weltweiser Begabung, den unser Volk hervorgebracht hat. Wir begegnen ihm in Ehrfurcht, auch wenn nicht alles, was er sagte, so ganz weltbedeutend bleibt wie seine tiefsten und schönsten Aussprüche.
Und eines soll bei dieser Vorauswürdigung gesagt werden, was sonst vergessen werden könnte. Goethe ist ein Schöpfer nicht nur der Dichtung als einer Kunstgattung und nicht nur der Weise einer Weltanschauung echter Humanität, sondern er ist auch der Schöpfer der deutschen Sprache. Nach Luther ist er derjenige Deutsche, welcher unserer Sprache eine gültige, weiterreichende Form und Klangfarbe gegeben hat, eine Vertiefung ihrer Ausdrucksmöglichkeiten und einen Glanz ihrer Höchstform, der nur noch von einigen ganz Großen derselben und der folgenden Zeit erreicht wurde, so Hölderlin und Nietzsche. Als Sprachschöpfer und Sprach-Erweiterer im Sinne seelischen Ausdrucks ist er ein Mitgestalter deutschen Wesens und insofern auch ein Gestalter unseres Kulturerbes, der bis nach Asien hinein zu den großen Kulturvölkern des Ostens, wie es die Chinesen und Japaner sind, ein Symbol deutschen Denkens und Fühlens geworden ist. Goethe ist auch ein Sprecher für einen freien und neuen Glauben. Dem dienen die nächsten Seiten.
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