Geschrieben von: Christoph Wendt |
„Der Winter ist lang und dunkel bei uns hier oben im Norden. Aber dann steigt die Sonne höher und höher, die Abende werden blauer und die Nächte heller. Dann ist für uns Schweden seit altersher Grund zum Feiern, zum Tanzen, Singen und Freuen. Dann endlich können wir Mittsommer feiern. Und wir laden Euch ein, da Ihr heute hier an den Siljansee gekommen seid, die ganze Nacht, nein, Tage und Nächte mit uns zu feiern“.
Die letzten Worte des Redners gehen unter im vieltausendstimmigen Jubel und Applaus der Zuschauer, die im riesigen Halbrund des Festplatzes von Leksand sitzen und seit Stunden zugeschaut haben, wie der fast 25 Meter hohe Maibaum aufgerichtet wurde – Meter für Meter, bis er endlich als unübersehbares Zeichen stand. Als Zeichen, dass nun Mittsommer ist, der Höhepunkt des Jahres, der schönste Tag, den Schweden vor allem im Herzen seiner traditionsreichen Provinz Dalarna feiert. Nirgendwo in Schweden wird Mittsommer, der Tag der Sommersonnenwende, der längste Tag des Jahres so begeistert, so intensiv und mit so vielen alten Bräuchen und Trachten gefeiert wie am Siljansee, am schönsten See Schwedens, wie er oft genannt wird. Ob in Mora oder Rättberg, in Tällberg, Orsa oder Leksand, überall am Ufer des Sees und in den Tälern Dalarnas wird gefeiert – tagelang, nächtelang – in einer Landschaft, die die Dichter besungen und die Maler gemalt haben. In Dalarna ist Schweden so, wie die Ausländer sich Schweden meistens vorstellen: Bunte Holzhäuser und schrägstehende Holzzäune um blühende Wiesen, hölzerne Dalapferdchen, bunte Trachten und Fiedler, die zu „gammal dans“, zu alten Volkstänzen aufspielen. Dalarna ist heute noch Schwedens romantisches Herz. Tagelang wird Mittsommer vorbereitet, werden Häuser, Gärten, selbst Autos mit frischem Birkengrün geschmückt. Rasen werden gemäht, in den Gärten die Tische festlich gedeckt, um den Abend mit Freunden und Verwandten zu verbringen, und überall wehen die blauen Schwedenfahnen mit dem gelben Kreuz. In den blühenden Wiesen stapfen Kinder zwischen gelben Trollblumen, roten Lichtnelken und zartlilafarbenen Storchschnabelblüten, den Mittsommerblumen der Schweden, um bunte Blumensträusse für Haarkränze zu pflücken. Nachmittags werden in Wirtshausgärten, auch in grossen Privatgärten die ersten „Maibäume“ aufgestellt. Die Schweden sagen tatsächlich Maibäume, auch wenn Mittsommer, wie in jedem Jahr in den Juni fällt. Am I9. Juni, einem Freitag, abends beginnt das Fest, das die ganze Nacht hindurch und weiter bis Sonntagabend gefeiert wird. Spielleute in bunten Trachten fiedeln, was das Zeug hält. Und jung und alt fassen sich an den Händen oder um die Hüften und tanzen auf dem grünen Rasen, der gesprenkelt ist von unzähligen Gänseblümchen. Später wird im Freilichtmuseum in Leksand der Maibaum aufgestellt. Und von allen Seiten kommen die Familien, alle in bunten Trachten zu den alten Häusern. Gegen Abend kommen lange Boote den Fluss herunter, mit Girlanden aus frischem Birkengrün geschmückt. Es sind jene Kirchboote, mit denen früher die Dalarnabauern sonntags zur Kirche ruderten. Die Ruderer tragen die Girlanden zum Festplatz, wo bereits tausende von Zuschauern auf das Schauspiel der Maibaumaufrichtung warten. Mit den frischen Birkengirlanden geschmückt wird dann der riesige Baum Meter um Meter hochgestemmt. Sogar der Pfarrer hilft mit. Und wenn der Maibaum endlich steht, Iöst sich die Spannung, Jubel bricht los, und die Menschen ziehen zum Tanz auf die Tenne. Zu einem Tanz, der bis zum Morgen dauern wird. Denn jetzt ist Mittsommer. Die Nacht, die gefeiert wird, ist keine Nacht wie andere. Sie ist lang und hell und voller Freude und Geigenklängen. Am nächsten Nachmittag tanzen die Kinder um den Maibaum in Hjortnes, einem kleinen Dorf am See. Krönender Abschluss des Mittsommerfestes ist der Sonntagabend mit seinem Tanz auf den Brücken. Rund um den Siljansee wird auf den kleinen Anlegebrücken getanzt. Hier ist nichts mehr organisiert, hier ist man unter sich. Und während die Sonne sich den Waldbergen von Dalarna im Westen zuneigt, und der See aussieht wie eine grosse Fläche geschmolzenen Silbers mit violetten Rändern, holen die Spielleute noch einmal alles aus ihren Instrumenten heraus. Dunkel wird es nicht in dieser Nacht, nur dämmrig. Es ist als ob die vielen Geigen rund um den See die Sonne gar nicht erst dazu kommen liessen sich für länger zu entfernen. Als ob sie sie rasch wieder hinter dem Horizont wieder heraufholen wollten, damit Mittsommer nie zu Ende gehe. |