Geschrieben von: Dr. Friedrich Hartert
Wo das Osterfest aber nicht mehr in überlieferter Weise im Brauchtum gefeiert und sein Grundgedanke in der Gemeinschaft verwirklicht wird, da erst wird die Treue zur Überlieferung zur Aufgabe. Denn nicht auf das äusserliche Bewahren des Gedankens kommt es an, sondern darauf. dass er lebendig bleibt.

Des Jahresrades Speichen sind die Feste, von ihnen nährt sich die Seele. Aus jedem wiederkehrenden festlichen Erlebnis dringen geheime Wirkungen in den Alltag hinüber, Kräfte, die des bewussten angespannten Wollens nicht bedürfen, um wirksam zu werden. Denn der Wille ist zwar mächtig, aber zur letzten Meisterschaft führt allein die Triebkraft der freien Seele. Alle Meisterschaft hat etwas vom festlichen Spiel, alle echte Fröhlichkeit und Freude ist im Grunde eine Aufgabe, wenn sie auch niemals als solche in Erscheinung treten dürfen. Wenn heute noch Bauern nach Festzeiten, anstatt nach bezifferten Monaten und Tagen rechnen, so liegt darin ebenso viel gesunde Lebensfreude wie tiefer menschlicher Ernst. Die Feste leben aus ewigen Ursprüngen im Blutserbe der Einzelnen und im Geisteserbe der Gemeinschaften und den unbekannten Verschlingungen aller der bewussten und unbewussten Ströme aus der Vergangenheit. Sie kehren immer wieder, wie das Jahr wiederkehrt, doch wiederholt sich keines.

Jahr für Jahr zogen unsere Vorfahren am frühen Ostermorgen ins Freie, um am Himmelsrand im Osten den ersten Strahl der Sonne emporflammen zu sehen, mit dem sie die wiedererstandene Erde grüsst. Denn nun ist die Starre endgültig gebrochen, das Leben zurückgekehrt. Jeder Morgen ist nun eigentlich ein Fest, aber dieser eine ist Symbol für alle. Die Morgenröte des Ostermorgens ist zugleich die Morgenröte des Jahres. Osterfeuer wurden abgebrannt, um diese wie die anderen Wendemarken des Jahres feierlich zu befestigen. Man schöpfte am Morgen das Osterwasser, das man ehrfürchtig und schweigend vom Quell oder Brunnen holen musste, um seiner heiligenden, erneuernden, verjüngenden Kraft teilhaftig zu werden.

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Der geheimnisvolle Ursprung des Jahres liegt in den „Zwölf Nächten“ mit ihrer Düsternis und Gefahr und ihrer unbesiegten Hoffnung. Im Frühling beginnt das Jahr Gestalt zu werden, zu sich selber zu kommen. Im Sommer findet es seine Reife und Erfüllung. So ist Ostern das Fest seiner Jugend.

Das lernen wir aus dem Gedanken begreifen, am Bilde aber wird es Erlebnis. Die Göttin Ostara ist nur eine Erinnerung an Gestorbenes, aber in Bildern lebt noch das, woraus einst ein Teil ihres Wesens in der Vorstellung unserer Vorfahren erwachsen ist. Man muss den Ostermorgen erlebt haben. Die graue lähmende Stille, die in uns den Schauer der Ahnung weckt. Den ersten weisslichen Schimmer im Osten und die ersten verträumten Regungen des Lebens, wenn die Vögel erwachen und die Tiere der Nacht, Eulen und Käuzchen, verstummt sind. Mit dem Chor der Morgenfrühe erhebt sich und schwillt der Wind und raschelt in den Gräsern. Der rote Glanz am Horizont verbreitet und vertieft sich bis zum Purpur, das Licht wächst, aus Schatten werden Bäume und Sträucher, die Spannung steigt – bis der erste Strahl mit einem Schlage Tag werden lässt. Nach der langen Dämmerung der Frühlingsnächte ist dieser erste Blick umso gewaltiger, die plötzliche Verwandlung der Welt, die auch uns erfasst, umso wunderbarer. Sie vollzieht sich vom Rande des weiten Ringes her, dessen Mitte immer du selbst bist. Aber sie ist überall zugleich. Du bist stets die Mitte, weil es dein Schicksal ist, Brennpunkt zu sein, in welchem sich die tausend geistigen Austrahlungen einer Welt – deiner Welt – treffen. Wer sich dessen bewusst wird, der empfängt die Gewissheit der Geborgenheit inmitten der umgrenzten vielgestaltigen Nähe, umgrenzt von der endlos geahnten gestaltlosen Ferne. Aber die Ferne ist mehr noch als geahnte Endlosigkeit – sie ist die Ahnung der Ewigkeit, ein Bild der Ewigkeit, deren voller Glanz sich nach altem Volksglauben im ersten Strahl der aufgehenden Sonne für einen Augenblick auftut; dann schweigt der Chor der Natur für eines Herzschlages Länge. Aus jener Gewissheit des Geborgenseins angesichts der Ewigkeit erwächst aber auch das Fernweh, die uralte deutsche Wanderlust. Sie treibt zu immer neuen Horizonten im Sehnen, in immer neuen Auferstehungen sich selbst zu finden. Die Morgenröte ist ein Versprechen. Dem Wanderer genügt es nicht, die irdische Erfüllung zu erwarten und das seine zu ihrer Vollziehung zu tun, er will mehr, er eilt ihr entgegen, ihn verlässt das Bild, das er geschaut hat, nicht. Nicht nur einmal im Jahre, immer wieder soll es ihm auferstehen. Der Ostermorgen aber ist die jährlich wiederkehrende Gewissheit sommerlicher Erfüllung.

Der Urgedanke der Auferstehung ist in der christlichen Theologie eingeschränkt, auf die Erinnerung an ein einmaliges Geschehnis. Aber Leben heisst ja nichts anderes als auferstehen. In zeitlos bildhafter Weise gestaltet das Volk das besonders zur Osterzeit immer wieder. In manchen Gegenden wird noch heute, etwa um diese Zeit, in feierlicher Weise zuerst der „Tod“ verbrannt, ertränkt oder vergraben und danach unter Jubel der „Sommer“ eingeholt. Der Tod ist dabei meist eine Puppe, der Sommer ein geschmücktes Bäumchen. Das ist nicht nur eine Allegorie auf Vorgänge in der Natur, sondern zugleich und dem Ursprung nach die äussere Spiegelung eines inneren Vorganges in jedem Einzelnen, und die Gemeinschaft wird eben dadurch zur Gemeinschaft, dass sie dies gemeinschaftlich vollzieht.

Wo das Osterfest aber nicht mehr in überlieferter Weise im Brauchtum gefeiert und sein Grundgedanke in der Gemeinschaft verwirklicht wird, da erst wird die Treue zur Überlieferung zur Aufgabe. Denn nicht auf das äusserliche Bewahren des Gedankens kommt es an, sondern darauf. dass er lebendig bleibt. Das aber kann nicht im Gedanken selbst geschehen, sondern nur im Bilde. Die Sonne tut ihre drei Freudensprünge am Ostermorgen nicht mehr und tanzt nicht mehr am Horizont. Aber es ist völlig dasselbe, wenn nur die Herzen nicht verlernen, sich dem Rhythmus von Raum und Zeit zu fügen, den Rausch des Frühlingsmorgens in sich zu fassen, nicht verlernen, zu feiern um des Festes willen. Vom Einzelnen her erfüllt sich die Gemeinschaft, und der Einzelne von innen her.