Die Kenntnis von der zyklischen Zeitauffassung der Germanen rückt ihren Mythos von der Entstehung der Welt in ein anderes Licht als es der gewöhnlich herrschenden christlichen Perspektive entspricht. Die umfangreichste und gleichzeitig aber auch weitgehend verchristlichte Überlieferung ist uns in Snorris Gylfaginning, die wiederum selbst auf Stellen der älteren Völuspa zurückgreift, überliefert.
Die Gylfaginning ist eine Skalden-Dichtung, die ältere Elemente des realen Glaubens mit christlichen Interpretationsansätzen und vom Autor frei erfundenen Komponeten verbindet.Am Anfang war ein Urzustand des leeren Raumes, ginnunga gap. Allerdings handelt es sich hier nicht um einen Zustand der Zeitlosigkeit, sondern lediglich um ein Zeitalter der körperlichen Leere, dem ein anderes, uns und unseren Vorfahren unbekanntes Zeitalter voran gegangen ist. Der „wesenlose Urstoff im Norden und Süden [verdichtete sich] zu finsterem Nebel, zu Wasser und Eis und Feuer“.[1] Zunächst entstand Muspellheim, die Feuerwelt. Danach entstand die Welt des Nebels und des Dunkels, Niflheim, mit der Quelle Hwergelmir in der Mitte, aus der zwölf Flüsse entspringen.
In der Gylfaginning heißt es:
„4. Gangleri fragte: Wie wurde die Welt, wie entstand sie, und was war zuvor?Har antwortete: So heißt es in der Völuspa:
Einst war das Alter, / da alles nicht war,[2]Nicht Sand noch See / noch salzge Wellen,Nicht Erde fand sich / noch Überhimmel,Gähnender Abgrund / und Gras nirgend.
Da sprach Jafnhar: Manches Zeitalter vor der Erde Schöpfung war Niflheim[3] entstanden; in dessen Mitte liegt der Brunnen, Hwergelmir[4] genannt. Daraus entspringen die Flüsse mit Namen Swöl, Gunnthra, Fiorm, Fimbul, Thul, Slidr und Hridr, Sylggr und Ylgr, Wid, Leiptr und Giöl.“ (…)Da sprach Thridi: Vorher aber war im Süden eine Welt, Muspel[5] geheißen: die ist hell und heiß, so daß sie flammt und brennt und allen unzugänglich ist, die da nicht heimisch sind und keine Wohnung da haben. Surtur[6] ist er geheißen, der an der Grenze des Landes sitzt und es beschützt: er hat ein flammendes Schwert, und am Ende der Welt wird er kommen und heeren und alle Götter besiegen und die ganze Welt in Flammen verbrennen. So heißt es in der Völuspa:
Surtur fährt von Süden / mit flammendem Schwert,Von seiner Klinge scheint / die Sonne der Götter.Steinberge stürzen, / Riesinnen straucheln,Zu Hel fahren Helden, / der Himmel klafft.“[7]
Das Gegenübertreten von Feuer- und Nebelwelt verkörpert den Gegensatz der Urelemente Feuer und Wasser. Das Wasser der Flüsse Hwergelmirs verdichtet sich zu Eis und erklärt damit den Übergang des Flüssigen zum Festen.
„5. Gangleri fragte: Was begab sich, bevor die Geschlechter wurden und Menschenvolk sich ausbreitete?Har antwortete: Als die Fluten, welche Eliwagar[8] heißen, so weit von ihrem Ursprunge kamen, daß der Giftstrom in ihnen erstarrte wie der Sinter, der aus dem Feuer fällt, wurde er in Eis verwandelt. Und da dies Eis stille stand und stockte, da fiel der Dunst darüber, der von dem Gifte kam und gefror zu Eis, und so legte eine Eislage sich über die andere bis in Ginnungagap[9].“
Die Urelemente sind getrennt damit zunächst an den Grenzen Ginnungagaps gelagert, dringen aber bald in den leeren Raum ein, vermischen sich und bringen so die ersten organischen Gebilde hervor. Die Reifschicht der Flüsse Eliwagr dringt bis nach Ginnungagap vor und füllte seinen nördlichen Teil mit dicken Eis- und Reifmassen, die ihn kalt und dunkel machten und Sprühregen und Winde hervorbrachten. In den südlichen Teil flogen Funken von Muspellheim hinein und machten ihn heiß und hell. Wo die Funken auf das Eis trafen und es schmelzen ließen, entstand Ymir, das erste Wesen, den die Reifriesen Örgelmir[10] nennen. Auch die späteren Riesen bewohnen unwirtliche, für den Menschen unzugängliche Gegenden, z. B. Hymir das Eis des Nordpolarmeers. Die Urwelt aus Nebel, Wasser und Eis, deren Nacht das von Süden vordringende wärmende Licht allmählich zum Leben erweckt ist eine eindrucksvolle Bezugnahme auf die Gegebenheiten der nordischen Natur. Am Ende einer jeden Polarnacht wird Ginnungagap erneut zum Leben erweckt. Nach der Überlieferung der Völuspa sind Ginnungagap und Ymir gleichzeitig: Die geistige, des abstrakten Denkens fähige Vorstellung und diejenige sinnliche, die nur Gestalten begreift, stehen sich gegenüber. Ymir, „der Rauschende“, bezeichnet mit seinem Namen nichts anderes als den zu einem körperlichen Gebilde geformten Urstoff selbst.
„Da sprach Jafnhar: Die Seite von Ginnungagap, welche nach Norden gerichtet ist, füllte sich an mit einem schweren Haufen Eis und Schnee, und darin herrschte Sturm und Ungewitter; aber der südliche Teil von Ginnungagap war milde von den Feuerfunken, die aus Muspelheim herüberflogen.Da sprach Thridi: So wie die Kälte von Niflheim kam und alles Ungestüm, so war die Seite, die nach Muspelheim sah, warm und licht, und Ginnungagap dort so lau wie windlose Luft, und als die Glut auch dem Reif begegnete, also daß er schmolz und sich in Tropfen auflöste, da erhielten die Tropfen Leben durch die Kraft dessen, der die Hitze sandte. Da entstand ein Menschengebild, das Ymir[11] genannt ward, aber die Hrimthursen[12] nennen ihn Oergelmir, und von ihm kommt das Geschlecht der Hrimthursen, wie es in der kleinen Völuspa heißt:
Von Widolf stammen / die Walen alle,Alle Zauberer sind / Wilmeidis Erzeugte,Die Sudkünstler stammen / von Swarthöfdi,Aber von Ymir / alle die Riesen.
und der Riese Wafthrudnir sagt auf die Frage:
Woher Oergelmir kam / den Kindern der RiesenZuerst, der allwissende Jote?
als Antwort:
Aus den Eliwagar / fuhren EitertropfenUnd wuchsen, bis ein Riese ward.Unsre Geschlechter / kamen alle daher:Drum sind sie unhold immer.
Da fragte Gangleri: Wie wurden die Geschlechter von ihm ausgebreitet? Oder wie geschah’s, daß mehrere geschaffen wurden? Oder hältst du ihn für einen Gott, von dem du gesprochen hast?Da antwortete Har: Wir halten ihn mitnichten für einen Gott: er war böse wie alle von seinem Geschlecht, die wir Hrimthursen nennen.“
Ymir vereinigt in sich beiderlei Geschlechter, seine Nachkommen bringt er auf dem Weg der natürlichen Zeugung hervor. Während des Schlafes erwuchsen ihm unter seinem linken Arm Mann und Weib und seine Füße zeugten miteinander einen Sohn.
„Es wird erzählt, als er schlief, fing er an zu schwitzen: da wuchs ihm unter seinem linken Arm Mann und Weib, und sein einer Fuß zeugte einen Sohn mit dem andern. Und von diesem kommt das Geschlecht der Hrimthursen; den alten Hrimthurs aber nennen wir Ymir.“
Wie das Hyndlalied berichtet, stammen von Ymir stammen alle Riesen ab. Sein Sohn heißt Thrudgelmir, sein Enkel Bergelmir, von dem das jüngere Reifriesengeschlecht abstammt, nachdem das ältere in der großen Flut[13] umkam.
Als der Reif weiter schmolz, entstand die Kuh Audumla[14], aus derem Euter vier Milchströme flossen, die Ymir nährten. Die Kuh selbst ernährte sich vom Lecken der salzigen Reifsteine.
„6. Da fragte Gangleri: Wo wohnte Ymir? Oder wovon lebte er?Har antwortete: Als das Eis auftaute und schmolz, entstand die Kuh, die Audumla hieß, und vier Milchströme rannen aus ihrem Euter; davon ernährte sich Ymir. Da fragte Gangleri: Wovon nährte die Kuh sich? Har antwortete: Sie beleckte die Eisblöcke, die salzig waren, und den ersten Tag, da sie die Steine beleckte, kam aus den Steinen am Abend Menschenhaar hervor, den andern Tag eines Mannes Haupt, den dritten Tag war es ein ganzer Mann, der hieß Buri[15]. Er war schön von Angesicht, groß und stark, und gewann einen Sohn, der Bör[16] hieß. Der vermählte sich mit Bestla[17], der Tochter des Riesen Bölthorn; da gewannen sie drei Söhne: der eine hieß Odin[18], der andere Wili[19], der dritte We[20]. Und das ist mein Glaube, daß dieser Odin und seine Brüder Himmel und Erde beherrschen.“
Odins Stammbaum ist aber relativ spät erst „erfunden“ worden, zu einem Zeitpunkt als seine Verehrung maßgebend für das religiöse Leben an den Fürstenhöfen geworden war. Odin selbst ist nämlich erst spät in die nordischen Lande eingewandert und hat den älteren Tyr[21] in seiner Bedeutung zurückgedrängt. Als Ase wird Odin aus Asien gekommen sein, was aber nichts anderes besagt, als daß er wohl aus östlicher Richtung gekommen sein wird. Kam er also aus dem höchstwahrscheinlich östlich von Island gelegenen Thule, dem Land der Hyperboräer? Oder war er ein Gott der sogenannten „Cro Magnon-Menschen„, die vor etwa 40 000 Jahren, am Ende der Eiszeit, nach Europa kamen und die Neandertaler zurückdrängten und sich wohl teilweise auch mit ihnen vermischten? Oder war er ein Gott der von den „Cro Magnon-Menschen“ abstammenden indogermanischen Streitaxtleute, die die nicht-indogermanische Großsteingräber-Kultur niederrangen?
„7. Da fragte Gangleri: Wie vertrugen sich diese [Odin, Wili und We, Anm. Esclarmonde] mit Ymir, und welcher war der stärkere?Har antwortete: Börs Söhne töteten den Riesen Ymir, und als er fiel, da lief so viel Blut aus seinen Wunden, daß sie darin das ganze Geschlecht der Hrimthursen ertränkten bis auf einen, der mit den Seinen davon kam: den nennen die Riesen Bergelmir[22]. Er bestieg mit seinem Weib ein Boot und rettete sich so, und von ihm kommt das (neue) Hrimthursengeschlecht, wie hier gesagt ist:
Im Anfang der Zeiten / vor der Erde SchöpfungWard Bergelmir geboren.Des gedenk‘ ich zuerst, / daß der altkluge RieseIm Boot geborgen ward.
8. Da fragte Gangleri: Was richteten die Söhne Börs aus, daß du sie für Götter hältst?Har antwortete: Davon ist nicht wenig zu sagen. Sie nahmen Ymir und warfen ihn mitten in Ginnungagap und bildeten aus ihm die Welt: aus seinem Blute Meer und Wasser; aus seinem Fleische die Erde; aus seinen Knochen die Berge; und die Steine aus seinen Zähnen, Kinnbacken und zerbrochenem Gebein. Da sprach Jafnhar: Aus dem Blute, das aus seinen Wunden geflossen war, machten sie das Weltmeer, festigten die Erde darin und legten es im Kreis um sie her, also daß es die meisten unmöglich dünken mag, hinüber zu kommen. Da sprach Thridi: Sie nahmen auch seinen Hirnschädel und bildeten den Himmel daraus, und erhoben . ihn über die Erde mit vier Ecken oder Hörnern, und unter jedes Horn setzten sie einen Zwerg; die heißen Austri, Westri, Nordri, Sudri.[23] Dann nahmen sie die Feuerfunken, die von Muspelheim ausgeworfen umherflogen, und setzten sie an den Himmel, oben sowohl als unten, um Himmel und Erde zu erhellen. Sie gaben auch allen Lichtern ihre Stelle, einigen am Himmel, andern lose unter dem Himmel und setzten einem jeden seinen bestimmten Gang fest, wonach Tage und Jahre berechnet werden. So wird in alten Sagen erzählt, und so heißt es in der Völuspa:
Die Sonne wußte nicht, wo sie Sitz hätte,Der Mond wußte nicht, was er Macht hätte,Die Sterne wußten nicht, wo sie Stätte hätten.
Da sagte Gangleri: Das sind merkwürdige Dinge, die ich da höre; ein großes Gebäude ist das und sehr künstlich gebildet. Wie war die Erde beschaffen? Har antwortete: Sie ist außen kreisrund, und rings umher liegt das tiefe Weltmeer. Und längs den Seeküsten jenseits gaben sie den Riesengeschlechtern Wohnplätze,[24] und nach innen rund um die Erde machten sie eine Burg wider die Anfälle der Riesen, und zu dieser Burg verwendeten sie die Augenbrauen Ymirs des Riesen und nannten die Burg Midgard[25]. Sie nahmen auch sein Gehirn und warfen es in die Luft und machten die Wolken daraus, wie hier gesagt ist:
Aus Ymirs Fleisch ward die Erde geschaffen,Aus dem Schweiße die See,Aus dem Gebein die Berge, / die Bäume aus dem Haar,Aus der Hirnschale der Himmel.Aus den Augenbrauen / schufen gütge AsenMidgard den Menschensöhnen;Aber aus seinem Hirn / sind alle hartgemutenWolken erschaffen worden.“
Wie alle indogermanischen Völker führen auch die Germanen ihre Abstammung auf die Götter zurück. Die ersten Menschen wurden aus zwei Baumstämmen geschaffen, die vom Meer an den Strand geschwemmt worden waren.
„9. (…) Als Börs Söhne am Seestrande gingen, fanden sie zwei Bäume. Sie nahmen die Bäume und schufen Menschen daraus. Der erste[26] gab Geist und Leben, der andere[27] Verstand und Bewegung, der dritte[28] Antlitz, Sprache, Gehör und Gesicht. Sie gaben ihnen auch Kleider und Namen: den Mann nannten sie Ask[29] und die Frau Embla[30], und von ihnen kommt das Menschen-Geschlecht, welchem Midgard zur Wohnung verliehen ward.“
Die Völuspa berichtet:
„17. Gingen da dreie / aus dieser Versammlung,Mächtige, / milde Asen zumal,Fanden am Ufer unmächtigAsk und Embla / und ohne Bestinnung.
18. Besaßen nicht Seele / und Sinn noch nicht,Nicht Blut noch Bewegung, / noch blühende Farbe.Seele gab Odin, / Hönir gab Sinn,Blut gab Lodur / und blühende Farbe.“
Der Völuspa und der Gylfaginning widersprechen den süd- und westgermanischen Stammsagen. In ihren uralten Liedern feierten diese Stämme den Gott Tuisto, der aus der Erde hervorgegangene Zwitter, der einen Sohn namens Mannus hatte. Mannus ist der Urmensch, vielleicht die personifizierte Menschheit überhaupt. Die Stammväter der germanischen Völker sind die drei Söhne des Tiuz, Ingo, Isto und Irmin. Von Ingo sollen die Ingävonen (Sachsen und Friesen), von Isto die Istävonen (Istwäonen und Franken) und von Irmin die Herimonen (Alemannen und Bajuvaren) abstammen. Indem Tuisto und Tiuz mehr und mehr gleichgesetzt wurden, sind beide Stammsagen, die vom gottgezeugten Urmenschen und von den Tiuzsöhnen, mit der Zeit miteinander verschmolzen. Das geht jedenfalls aus den Berichten des Tacitus hervor, der zugleich auch anklingen läßt, daß Tiuz/Tuisto noch mehr Söhne habe, die die Stammväter von weiteren Völkergruppen, wie Vandalen und Sueben seien.
Die Nordgermanen, deren Stammsage in der oben zitierten Gylfaginning-Stelle überliefert ist und die Goten leiteten ihre Herkunft zwar auch von den Göttern her, nicht aber von den Söhnen Tuistos. Die Stammsagen dürften deshalb erst zu einer Zeit ihre heute bekannte Ausprägung erhalten haben, in der sich die Nordgermanen und Goten bereits in ihrer sprachlichen wie kulturellen Entwicklung von den übrigen germanischen Stämmen deutliche entfernt hatten.
Es stellt sich generell die Frage, ob die Weltentstehungslehre der nordgermanischen Völker auch für die deutschen Stämme Geltung beanspruchen kann, ob sie vielleicht sogar gemeingermanisch ist. Der wenig umsichtige Umgang der Christenheit mit den Überlieferungen unserer Vorfahren ließ kaum aussagekräftige Quellen übrig. Im großen und ganzen kann man aber davon ausgehen, daß die Mythen der germanischen Stämme sich weitgehend in ihrer Grundstruktur ähnelten, weil sie alle indogermanischen Ursprungs sind. Zudem wirkten sich die in der nordgermanischen Überlieferung anklingen historischen Ereignisse, wie Eiszeit, Wanderungsbewegungen und ethnische und kulturelle Konflikte, auf das gesamte germanische Gebiet aus.
Dennoch scheint das Vorhandensein einer ausgebildeten kosmogonischen Sage bei den Süd- und Westgermanen zweifelhaft. In den bekannt gewordenen Aufzeichnungen christlicher Missionare finden sich nämlich keine Anweisungen, wie gegen derartige Volkssagen vorzugehen sei.
Vielleicht stammt auch die Überlieferung von Tiuz noch aus einer Zeit, in der Odin noch nicht nach Germanien eingewandert war und Mannus, kennen nicht auch die Inder einen Gott Manu?
Und was taten die Asen, als die Menschen Mittgard bezogen hatten?
„Darnach bauten sie sich eine Burg mitten in der Welt und nannten sie Asgard[31]. Da wohnten die Götter und ihr Geschlecht, und manche Zeitung[32] trug sich da zu, davon erzählt wird auf Erden und in den Lüften. In der Burg ist ein Ort, der Hlidskialf[33] heißt, und wenn Odin sich da auf den Hochsitz setzt, so übersieht er alle Welten und aller Menschen Tun und weiß alle Dinge, die da geschehen. Seine Hausfrau heißt Frigg[34], Fiörgwins Tochter, und von ihrem Geschlecht ist der Stamm entsprungen, den wir das Asengeschlecht[35] nennen, welches das alte Asgard bewohnte und die Reiche, die dazu gehören, und das ist das Geschlecht der Götter. Und darum mag er Allvater[36] heißen, weil er der Vater ist aller Götter und Menschen und alles dessen, was er durch seine Kraft hervorgebracht hat. Jörd[37] war seine Tochter und seine Frau, und von ihr gewann er einen erstgebornen Sohn: das ist Asathôr[38]; ihm folgen Kraft und Stärke, daß er siegt über alles Lebendige.
10. Nörwi oder Narfi[39] hieß ein Riese, der in Jötunheim[40] wohnte; er hatte eine Tochter, die hieß Nacht[41] und war schwarz und dunkel wie ihr Geschlecht. Sie ward einem Manne vermählt, der Naglfari hieß: der beiden Sohn war Audr. Darnach ward sie einem namens Onar[42] vermählt; beider Tochter hieß Jörd. Ihr letzter Gemahl war Dellingr[43], der vom Asengeschlecht war. Ihr Sohn war schön und licht nach seiner väterlichen Herkunft. Da nahm Allvater die Nacht und ihren Sohn Tag und gab ihnen zwei Rosse und zwei Wagen und setzte sie an den Himmel, daß sie damit alle zweimal zwölf Stunden um die Erde fahren sollten. Die Nacht fährt voran mit dem Rosse, das Hrimfaxi[44] heißt, und jeden Morgen betaut es die Erde mit dem Schaum seines Gebisses. Das Roß, womit Tag fährt, heißt Skinfaxi[45], und Luft und Erde erleuchtet seine Mähne.“
Die Entstehung von Sonne und Mond erinnert im weitesten An die griechische Sagenwelt. Die Kinder des Riesen Mundilföri müssen den Sonnen- und den Mondwagen lenken, weil ihr Vater sie in die Götter erzürnender Selbstüberschätzung es gewagt hatte, sie den Göttern gleichzusetzen:
„11. Da fragte Gangleri: Wie leitet er den Lauf der Sonne und des Mondes?Har antwortete: Ein Mann hieß Mundilföri, er hatte zwei Kinder. Sie waren hold und schön: da nannte er den Sohn Mond[46] und die Tochter Sonne[47] und vermählte sie einem Manne Glenur genannt. Aber die Götter, die ihr Stolz erzürnte, nahmen die Geschwister und setzten sie an den Himmel und hießen Sonne die Hengste führen, die den Sonnenwagen zogen, welchen die Götter, um die Welt zu erleuchten, aus den Feuerfunken geschaffen hatten, die von Muspelheim geflogen kamen. Die Hengste hießen Arwakur[48] und Alswidur[49], und unter ihren Bug setzten die Götter zwei Blasbälge, um sie abzukühlen, und in einigen Liedern heißen sie Eisenkühle. Mani leitet den Gang des Mondes und herrscht über Neullicht und Vollicht. Er nahm zwei Kinder von der Erde, Bil und Hiuki genannt, da sie von dem Brunnen Byrgir kamen und den Eimer auf den Achseln trugen; der heißt Sägr und die Eimerstange Simul. Widfinnr heißt ihr Vater; diese Kinder gehen hinter dem Monde her, wie man noch von der Erde aus sehen kann.
12. Da fragte Gangleri: Die Sonne fährt schnell, fast als wenn ihr bange wäre: sie könnte ihren Gang nicht mehr beschleunigen, wenn sie für ihr Leben fürchtete.Da antwortete Har: das ist nicht zu verwundern, daß sie so schnell fährt, denn ihr Verfolger ist nah, und sie kann sich nicht anders fristen, als indem sie ihre Fahrt beschleunigt. Da fragte Gangleri: Wer ist es, der sie so in Angst setzt? Har antwortete: Das sind zwei Wölfe; der eine, der sie verfolgt, heißt Sköll[50]. Sie fürchtet, daß er sie greifen möchte; der andere heißt Hati[51], Hrodwitnirs Sohn, der läuft vor ihr her und will den Mond packen, was auch geschehen wird.“
Wenn Sköll der Sonne zu nahe kommt, gibt es eine Sonnenfinsternis und wenn Hati dem Mond zu nahe kommt, eine Mondfinsternis.
„Da fragte Gangleri: Von welcher Herkunft sind diese Wölfe?Har antwortete: Ein Riesenweib wohnt östlich von Midgard in dem Walde, der Jarnwidr[52] heißt. In diesem Walde wohnen die Zauberweiber, die man Jarnwidiur nennt. Jenes alte Riesenweib gebiert viele Riesenkinder, alle in Wolfsgestalt, und von ihr stammen die Wölfe. Es wird gesagt, der mächtigste dieses Geschlechts werde der werden, welcher Managarm[53] heißt. Dieser wird mit dem Fleisch aller Menschen, die da sterben gesättigt; er verschlingt den Mond und überspritzt den Himmel und die Luft mit seinem Blut; davon verfinstert sich der Sonne Schein, und die Winde brausen und sausen hin und her. So heißt es in der Völuspa:
Östlich sitzt die Alte / im EisengebüschUnd füttert dort / Fenrirs[54] Geschlecht.Von ihnen allen / wird eins das schlimmste:Des Mondes Mörder übermenschlicher Gestalt.
Ihn mästet das Mark / gefällter Männer,Der Seligen Saal / besudelt das Blut.Der Sonne Schein dunkelt / in kommenden Sommern,Alle Wetter wüten: Wißt ihr, was das bedeutet?
13. Da fragte Gangleri: Wo geht der Weg vom Himmel zur Erde?Har antwortete und lachte: Nun hast du unklug gefragt. Hast du nicht gehört, daß die Götter eine Brücke machten vom Himmel zur Erde[55], die Bifröst[56] heißt? Die wirst du gewiß gesehen haben; aber vielleicht nennst du sie Regenbogen. Sie hat drei Farben und ist sehr stark und mit mehr Kunst und Verstand gemacht als andre Werke. Aber so stark sie auch ist, so wird sie doch zerbrechen, wenn Muspels Söhne kommen, darüber zu reiten; und müssen ihre Pferde dann über große Ströme schwimmen. Da sprach Gangleri: Nicht dünkt es mich, daß die Götter die Brücke so fest gemacht haben, wenn sie zerbrechen mag; sie konnten sie doch so fest machen, als sie wollten. Da antwortete Har: Die Götter haben keinen Tadel verdient wegen dieses Werkes. Bifröst ist eine gute Brücke; aber kein Ding in der Welt mag bestehen bleiben, wenn Muspels Söhne geritten kommen.
14. Da fragte Gangleri: Was tat Allvater, als Asgard gebaut war?Har antwortete: Zuvörderst setzte er Richter ein, die über das Schicksal der Leute entscheiden und die Einrichtungen in der Burg bewahren sollten. Das war an dem Orte, der Idafeld[57] heißt, mitten in der Burg. Ihr erstes Geschäft war, einen Hof zu bauen, worin ihre Stühle standen, zwölfe an der Zahl, und überdies ein Hochsitz für Allvater. Es ist das beste und größte Gebäude der Welt, außen sowohl als innen von lauterm Gold. Diese Stätte nennt man Gladsheim. Sie bauten noch einen andern Saal, da war die Wohnung der Göttinnen. Dies Haus war auch sehr schön, und die Menschen nennen es Wingolf. Danach legten sie Schmiedeöfen an und machten sich dazu Hammer, Zange und Amboß und hernach damit alles andere Werkgeräte. Demnächst verarbeiteten sie Erz, Gestein und Holz und eine so große Menge des Erzes, das Gold genannt wird, daß sie alles Hausgeräte von Gold hatten. Und diese Zeit heißt das Goldalter: es verschwand aber bei der Ankunft gewisser Frauen, die aus Jötunheim kamen. Darnach setzten sich die Götter auf ihre Hochsitze und hielten Rat und Gericht und gedachten, wie die Zwerge belebt würden im Staub und in der Erde gleich Maden im Fleisch. Die Zwerge waren zuerst erschaffen worden und hatten Leben erhalten in Ymirs Fleisch und waren da Maden. Aber nun nach dem Ausspruch der Götter erhielten sie Menschenwitz und Menschengestalt und wohnten in der Erde und im Gestein. Modsognir hieß einer dieser Zwerge und ein anderer Durin, wie es in der Völuspa heißt:
Da gingen die Berater / zu den Richterstühlen,Hochheilge Götter hielten Rat,Wer schaffen sollte / der Zwerge GeschlechtAus des Meerriesen Blut / und blauen Gliedern.
Da ward Modsognir / der mächtigsteDieser Zwerge, / und Durin nach ihm.Manche noch machten sie / menschengleichDer Zwerge von Erde, / wie Durin angab.
Und dieses, heißt es, sind die Namen dieser Zwerge:
Nyl und Nidi, / Nordri und Sudri,Austri und Westri, / Althlof, Dwalin[58],Nar und Nain, / Nipingr, Dain,B’wör, Bawör, / Bömbör, Nori,Ori, Onar, / Oin, Modwitnir,Wigr und Gandalfr, / Windalfr, Thorin,Fill, Kili, / Fundin, Wall,Thror, Throin, / Theckr, Litr, Witr,Nyr, Nyradr, / Reckr, Radswidr.
Und diese sind Zwerge und wohnen im Gestein wie jene in der Erde:
Draupnir, Dolgthwari, / Hör, Hugstari,Hlediofr, Gloin, / Dori, Ori,Dufr, Andwari[59], / Hepti, Fili,Har, Siar.
Aber folgende kamen von Swarins Hügel gen Oerwang auf Jöruwall, und von ihnen stammt Lofars Geschlecht. Dies sind ihre Namen:
Skirsir, Wirfir, / Skafidr, Ai,Alfr, Ingi, / Eikinskialdi,Falr, Frosti, / Fidr, Ginnar.“
Die Riesen und Götter sind also nicht, wie Zwerge und Menschen, von Schöpfern geschaffen worden, sondern entstanden aus dem Urstoff selbst. Sie sind keine Gebilde der Schöpfung, sondern Gebilde der elementaren Naturmächte. Wenn in der Überlieferung gelegentlich von der Riesenwelt Jotunheim und der Albenwelt Alfheim[60] die Rede ist, so werden damit nicht Welten im eigentlichen Sinne gemeint, sondern nur die Aufenthaltsorte dieser Geschöpfe bezeichnet.
Anmerkungen:
- Wolfgang Golther, aaO, S. 512. Interessant ist auch die Parallele zur Welteislehre, die sich ohne Probleme mit dem germanischen Weltentstehungsmythos in Einklang bringen läßt.
- Die wohl ursprüngliche Fassung vor der Verchristlichung lautet: „da Ymir war“.
- „die dunkle Welt“ im Norden.
- „der brausende Kessel“.
- „Weltende durch Feuer“.
- „der Schwarze“
- Alle Zitate der Edda, soweit nicht anders gekennzeichnet, nach „Die Edda. Götterlieder, Heldenlieder und Spruchweisheiten der Germanen, Vollständige Text-Ausgabe in der Übersetzung von Karl Simrock, Augsburg 1995.
- „el“, „Unwetter“; „vagr“, „Meer“.
- „gähnender Rachen“.
- „den gewaltig Rauschenden“.
- „Zwilling“, „Zwitter“.
- „Frostriesen“, „Reifriesen“.
- „Sintflut“?, Atlantis ?
- „reiche, hornlose Kuh“.
- „Vater“.
- „Sohn“.
- „Ehefrau“ oder „Rinde, Bast“.
- „odr“, „wütend, besessen“.
- „Wille“, ein anderer Name ist Hönir.
- „Heiligtum“, ein anderer Name ist Lodur, „der Lodernde“.
- „tivar“, „Götter“.
- „Berg-Brüller“.
- „Ost“, „West“, „Nord“ und „Süd“.
- Utgard.
- „die Welt in der Mitte“.
- Odin, als Gott der Luft und der Weisheit.
- Wili, als Wassergott.
- Ve, als Feuergott.
- „Esche“.
- „Ulme“.
- „Heim der Asen“.
- ursprüngliche Bedeutung: „Begebenheit“.
- „Gerüst über der (Tür-)Öffnung, Aussichtsturm, Wachturm“.
- „Frau, Geliebte“.
- „As“ bedeutet vermutlich „Kampf-Göttin“; „Anses“ „Tragbalken“.
- Einer der zahlreichen Namen Odins.
- „die Erde“.
- Thor, der „Donner“.
- „Enge, Klemme, Bedrängnis“; Sohn Lokis.
- „Welt der Riesen“, östlich von Mittgard gelegen.
- Nött
- Annar.
- „der Helle, Lichte“.
- „reifmähnig“ oder „Rußpferd“.
- „lichtmähnig“ oder „Lichtpferd“.
- Mani.
- Sôl.
- „zeitig wach“.
- „sehr schnell“.
- „Spott“.
- „Verächter“.
- „Eisenholz“.
- „Mondhund“.
- „Sumpfbewohner“.
- Von Mittgard nach Asgard.
- „die schwankende Himmelsstraße“; Anderer Name „ásbrú“, Asenbrücke.
- „Feld der Betriebsamkeit“.
- „der Langsame“ oder „der Schlafende“; Vater einiger Nornen.
- „der Vorsichtige“, Sohn von Odin.
- Albe, Alfe, „lichte Nebelsgestalt“.
<pfuss““>©1998-1999 by Esclarmonde.</pfuss““>
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